Oberstes Gericht entscheidet in Missbrauchscausa Kardinal Pell

Alles oder nichts

Bald entscheidet sich wohl das Schicksal von Kardinal Pell. Wird Australiens Oberstes Gericht die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs bestätigen? Oder kommt er auf den letztmöglichen juristischen Drücker frei? 

Kardinal George Pell (m.) / © Erik Anderson (dpa)
Kardinal George Pell (m.) / © Erik Anderson ( dpa )

Mit Hochspannung schauen in dieser Woche Kardinal George Pell in seiner Gefängniszelle sowie die internationale Kirche und die Weltöffentlichkeit nach Canberra: Dort wird am Mittwoch Australiens Oberstes Gericht die Berufungsanhörung des früheren Erzbischofs von Melbourne (78) eröffnen, der weiter gegen seine Verurteilung zu sechs Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs vorgeht.

Den Richtern des High Court of Australia (HCA) obliegt es nun, in dem juristisch wie kirchenpolitisch brisanten historischen Fall eine möglichst klare Entscheidung zu treffen. Als erstes muss das Gericht jedoch darüber befinden, ob es den Berufungsantrag von Pells Anwälten überhaupt annimmt.

Videofrage für Pells Anwälte ist essenziell 

Wie schon im Prozess gegen den früheren Finanzchef des Vatikan als auch vor dem Berufungsverfahren ziehen seine Anwälte in ihrer Eingabe an den High Court die Glaubwürdigkeit des Opfers in Zweifel, dessen öffentlich nicht bekannte Aussage zur Verurteilung Pells geführt hatte. Es sei deshalb weder der Jury noch den Berufungsrichtern eine "zweifelsfreie" Entscheidung möglich gewesen. Mit anderen Worten: die Anwälte berufen sich auf das alte Rechtsprinzip "Im Zweifel für den Angeklagten".

Der zweite Kernpunkt der Anwälte ist eine zunächst banal erscheinende verfahrenstechnische Sache. Durfte das Berufungsgericht Videoaufzeichnungen der Aussage des Opfers anschauen, um zu einer Entscheidung zu gelangen, oder hätte es nur auf das schriftliche Protokoll der Aussage zurückgreifen dürfen?

Warum aber ist die Videofrage für Pells Anwälte so essenziell? Es gehe um Emotionen, wird in australischen Medien spekuliert. In dem Video sei eben auch das Verhalten, die Mimik, die Gestik des Betroffenen zu sehen, die, anders als beim Lesen von Mitschriften, einen Eindruck der Persönlichkeit des Betroffenen und damit auch einen zusätzlichen Rückschluss auf seine Glaubwürdigkeit zuließen.

Pells inzwischen in der Haftanstalt Barwon 

Sieht das Gericht das Anschauen der Videos als unzulässig an, wird es aller Voraussicht nach den Fall zur neuen Verhandlung an das Berufungsgericht von Victoria zurückweisen. Dieses hatte im August 2019 die Berufung mit der Mehrheit von zwei der drei Richter abgelehnt - dieses Urteil hoffen Pells Anwälte jetzt zu kippen.

Die Staatsanwaltschaft betont in ihrer Eingabe an den High Court wenig überraschend, dass es keinen Grund für einen Freispruch Pells gebe, der inzwischen in der Haftanstalt Barwon ist. Das Opfer sei glaubwürdig, die Beweislast erdrückend, es gebe keine Zweifel an der Schuld des früheren Präfekts des Vatikanischen Sekretariats für die Wirtschaft.

Pell war im Dezember 2018 von einer Jury für schuldig befunden worden, 1996 als Erzbischof von Melbourne zwei Chorknaben in insgesamt fünf Fällen sexuell belästigt und missbraucht zu haben. Er soll nach einem Gottesdienst in der St. Patrick-Kathedrale von Melbourne in der Sakristei im erzbischöflichen Ornat die Jungen zu sexuellen Handlungen an sich gezwungen zu haben. Zeugen zugunsten Pells hatten ausgesagt, dass Oralsex im vollen Ornat unmöglich sei. Zudem sei Pell nach der Messe noch mit vielen Gottesdienstbesuchern zusammen gewesen. Somit sei die Tat weder zeitlich noch örtlich möglich gewesen.

Verurteilung "möglicherweise fehlerhaft"?

Die angesehenen Juristen Andrew Dyer und David Hamer vertraten in Australiens wichtigstem juristischen Fachblatt "Sydney Law Review" die Ansicht, Pells Verurteilung sei "möglicherweise fehlerhaft". "Konnte die Jury tatsächlich davon überzeugt sein, dass es nicht die plausible Möglichkeit der Unschuld Pells gab?

Wir glauben, der HCA hat das Recht, das herauszufinden; aber wir bezweifeln, dass die ehrenwerten Richter zu diesem Schluss kommen werden", so Dyer und Hamer. Andere Juristen warnen vor Prophezeiungen über den Ausgang des voraussichtlich zweitägigen Berufungsverfahrens. "Vorhersagen sind unmöglich", sagte Mirco Bagaric, Dekan der juristischen Fakultät der Universität Swinburne in Melbourne, der Tageszeitung "The Australian".

Weitere strafrechtliche Verfahren gegen Pell wegen Lügen und Behinderung der Justiz bei seinen Aussagen vor dem staatlichen Missbrauchsausschuss sind wahrscheinlich. Belege für diese Vorwürfe könnten sich in den zwei Bänden des Abschlussberichts finden, die von der Missbrauchskommission bislang nicht veröffentlicht wurden. Das finale HCA-Urteil im Missbrauchsfall wird also voraussichtlich nicht das letzte Kapitel der Pell-Saga sein.

Von Michael Lenz


Kardinal Pell kämpft für Freispruch / © Erik Anderson (dpa)
Kardinal Pell kämpft für Freispruch / © Erik Anderson ( dpa )
Quelle:
KNA
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