"Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan", ist eines der bekanntesten Worte Jesu. Die Geringsten, das waren schon zu biblischer Zeit die Armen, die Kranken, die Schwachen und Alten. Wer vorbelastet oder über 65 Jahre alt ist, für den ist das Coronavirus gefährlicher. Politiker mahnen derzeit, zum Schutz dieser Gruppen müsse die ganze Gesellschaft umdenken - und auf manches verzichten.
Jeder Einzelne müsse sich fragen, was er tun könne, um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu verlangsamen und gefährdete Menschen zu schützen, mahnte jüngst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. "Wir müssen unseren Alltag ändern, nicht allmählich, sondern jetzt", sagte er. "Unsere Selbstbeschränkung heute wird morgen Leben retten." Zu verzichten sei etwa "auf Fußballspiele, große Konzerte oder Partys, auf alles, was nicht dringend erforderlich ist". Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) riet dazu, Sozialkontakte auf ein Minimum zu reduzieren.
Herausforderung für eine Gesellschaft
Eine Herausforderung für eine Gesellschaft, die von Individualismus, Spaß und Konsum geprägt ist. Im Alltag und in den Sozialen Netzwerken bilden sich zwei Gruppen: Die einen tun Vorsorgemaßnahmen als "übertrieben" ab, die anderen kritisieren, dass das Land nicht längst abgeriegelt ist.
Manche meinen, zwei Wochen häusliche Quarantäne mit Netflix und Pizza-Lieferdienst seien doch "geil". Andere erinnern daran, dass nicht jeder Job mit Home Office vereinbar ist und dass Veranstaltungsverbote rasch Existenzen bedrohen können - von Selbstständigen, kleinen Unternehmen, bestimmten Berufsgruppen wie Schaustellern. Mitunter werden gar sozialdarwinistische Positionen geäußert: Das Virus führe doch zu natürlicher Auslese, wenn "nur" Alte und Kranke stürben.
Gruppen gegeneinander auszuspielen - davon hält der Gerontologe Uwe Sperling nichts. "Es verspricht keinen Erfolg", sagt er. "Die Menschheit sollte sich nicht dümmer verhalten als das Virus." Die Epidemie könne vielmehr verdeutlichen, dass ein Infizierter nicht in erster Linie alt oder jung, In- oder Ausländer sei - sondern ein Mensch. "Ein Virus verschont niemanden." Es gebe zudem auch praktische Argumente für Solidarität. "Eine sprunghafte Verbreitung des Virus schädigt eben nicht nur alte Menschen, sondern auch die Wirtschaft - und damit die Firmen, in denen die Jungen arbeiten."
Coronavirus auch Thema bei der Telefonseelsorge
Ludger Storch leitet die Telefonseelsorge in Bochum. Die Anrufe zum Thema Corona steigen aktuell sprunghaft an, wie er sagt. Während die Angst vor dem Virus im Januar und Februar noch kaum eine Rolle gespielt habe, drehten sich momentan etwa acht Prozent der täglichen Anrufe darum. Neben Infektionen sorgten sich die Menschen vor allem um soziale Isolation.
"Es rufen junge Leute an, die mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus liegen und eine zusätzliche Infektion fürchten", berichtet der Experte. "Ältere Menschen beklagen, dass die sonst so freundliche Nachbarin ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen hat. Andere fragen, ob sie einen Termin beim Jobcenter wegen Fieber absagen können - oder ob ihnen dann Sanktionen drohen." Die Mitarbeiter beraten, versuchen, Ängste zu lindern und die Situation der Betroffenen nüchtern einzuschätzen. In dieser Situation dürfe niemand nur auf sich selbst schauen, so Storch.
"Völlige Isolation schädlich"
Viele ältere Menschen nähmen ohnehin zu wenig am öffentlichen Leben teil, sagt Sperling. Bei Maßnahmen wie Besuchsverboten in Seniorenheimen müsse daher abgewogen werden, inwieweit Schutz geboten sei - und wann er zur Diskriminierung werde. Derzeit sei es ratsam für sie, sich vorübergehend etwas zurückzuziehen. Aber: "Völlige Isolation ist schädlich - auch für die Gesundheit", mahnt der Forscher. Es gelte daher, neben klassischen Kontakt-Möglichkeiten via Telefon und über digitale Medien "erfinderisch zu sein" im täglichen Miteinander.
In den Sozialen Medien zeigt sich derzeit auch, wie das aussehen kann. So posten Nutzer unter #Nachschaftschallenge ihre Aushänge, auf denen sie älteren Nachbarn anbieten, Einkäufe und Besorgungen für sie zu übernehmen. Offenbar hoffen die Initiatoren, dass auch Nächstenliebe viral gehen kann.