Katholische Nachrichtenagentur (KNA): Herr Bröckelmann-Simon, Hilfsorganisationen fürchten angesichts der Corona-Krise um den Fortbestand ihrer Projektfinanzierungen. Wie sieht die Lage bei Misereor aus?
Martin Bröckelmann-Simon (Misereor-Geschäftsführer): Ernst. Wir haben gerade unsere Budgetplanung aus Kollektenmitteln vorsorglich um die Hälfte heruntergesetzt, weil wir mit massiven Einbrüchen bei dem Spendenaufkommen jetzt in der Fastenzeit rechnen müssen.
KNA: Vor einigen Jahren grassierte in Afrika eine Ebola-Epidemie - lassen sich daraus Lehren für den Umgang mit Corona und den Folgen ableiten?
Bröckelmann-Simon: Wichtigste Erfahrung war: Je eher wir handeln, desto besser. Auf unsere Partner bezogen heißt das: Wir müssen sie rechtzeitig stark machen, damit sie einer Ausbreitung des Virus möglichst wirkungsvoll begegnen können.
KNA: Wie weit sind Sie damit gekommen?
Bröckelmann-Simon: Wir beobachten überall eine rapide wachsende Zahl an Ländern, die Bewegungseinschränkungen für ihre Bevölkerung erlassen. Die Schnelligkeit solcher Reaktionen ist in Afrika auch eine der Lehren aus der Ebola-Epidemie. Das heißt aber auch, dass unsere Partner weltweit jetzt in der Lage sein müssen, möglichst viele Dinge über Internet und Telefon aufrechtzuerhalten. Das scheint Gott sei Dank vielerorts schon ganz gut zu funktionieren.
KNA: Wie macht sich das in der Misereor-Zentrale bemerkbar?
Bröckelmann-Simon: Uns erreichen im Stundentakt Anträge zur Projektanpassung mit Blick auf den Kampf gegen Corona. Das Spektrum reicht von der Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit, die Erstellung von Infomaterial bis hin zu konkreten Maßnahmen bei Infektionsschutz und Gesundheitsversorgung. Wir versuchen, darauf sehr flexibel zu reagieren, um die Projektarbeit aufrechtzuerhalten. Zugleich muss sichergestellt sein, dass wir unseren Partnern die nötigen Finanzmittel auch dann noch bereitstellen können, wenn wir jetzt selbst gezwungen sind, weitgehend oder komplett unsere Arbeit von zu Hause zu verrichten. Wir dürfen die Menschen in unseren Projekten keinesfalls allein lassen.
KNA: In Europa gab es bereits Engpässe bei Desinfektionsmitteln oder Schutzkleidung. Das lässt Schlimmes befürchten für andere Regionen der Welt.
Bröckelmann-Simon: Manche Partner gehen erstaunlich kreativ an die Sache heran, sie sind ohnehin sehr geübt im Umgang mit dem Mangel. Aus Äthiopien habe ich kürzlich eine Nachricht von einem unserer Partner, einem Krankenhaus, erhalten, das jetzt beispielsweise selbst Schutzkleidung produziert und selbst aus Seife und Alkohol ein Desinfektionsmittel herstellt. Aber natürlich blicken wir mit großer Sorge auf die kommenden ein bis zwei Monate.
KNA: Warum?
Bröckelmann-Simon: Weil sich erst dann zeitverzögert richtig zeigen wird, welche Auswirkungen die Pandemie auch auf die Länder des Südens hat. Allein in Indien leben 70 Millionen Menschen dicht gedrängt in Slums, weltweit leben 1,8 Milliarden Menschen in unzureichenden Wohnverhältnissen. Da können Sie Abstandhalten zur Eindämmung von Infektionen vergessen, es fehlt an minimalen Voraussetzungen für wirkungsvolle Prävention. Besonders verwundbar sind auch jene Regionen, in denen gerade auch noch andere Epidemien grassieren, Dengue-Fieber oder Malaria zum Beispiel - und natürlich alle Konfliktherde dieser Welt.
KNA: An welche Gegenden denken Sie?
Bröckelmann-Simon: An alle Regionen, wo Menschen in Lagern leben, aber auf jeden Fall an den Nahen Osten, wo wir aufgrund der Kriegssituation und der anhaltenden Flüchtlingsbewegungen eine hohe Dunkelziffer und mangelnde Handlungsfähigkeit im Kampf gegen die Verbreitung des Corona-Virus erwarten müssen. Aber ebenso auch an Venezuela. Das Land ist ohnehin seit Jahren durch eine politische und wirtschaftliche Dauerkrise mit großen Versorgungsengpässen gelähmt und wird durch die Corona-Folgen noch tiefer in Not und Elend schlittern.
KNA: Ein düsteres Szenario.
Bröckelmann-Simon: Sorgen machen uns eigentlich alle, die verletzlich sind, auch die indigenen Völker. Sie haben solchen Krankheiten kaum Abwehrkräfte entgegenzusetzen. Als die ersten Europäer Ende des 15. Jahrhunderts nach Südamerika kamen, löschten die von ihnen eingeschleppten Krankheiten ganze Gemeinschaften aus. Diese Geschichte darf sich nicht wiederholen. Uns darf das nicht gleichgültig sein - Corona ist eine Pandemie, deren Bedrohung nur durch weltweiten Einsatz, auch und gerade für die Armen, bewältigt werden kann.
Das Interview führte Joachim Heinz.