Neues Buch über die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden

Die Traumata der zweiten Generation - "Briefe nach Breslau"

Lange wusste Maya Lasker-Wallfisch nicht, was los war. Sie verspürte oft Angst und fühlte sich nirgendwo richtig aufgehoben. Bis sie verstand: Als Tochter einer Schoah-Überlebenden hatte sie Traumata ihrer Mutter geerbt.

Autor/in:
Leticia Witte
Anita Lasker-Wallfisch / © Henning Schoon (KNA)
Anita Lasker-Wallfisch / © Henning Schoon ( KNA )

Ihre Mutter ist weltberühmt - entsprechend fühlte sie sich lange als "Tochter von". Maya Lasker-Wallfisch beschreibt in ihrem neuen Buch, wie sie sich auf einer Tagung in Los Angeles als "Tochter der Cellistin von Birkenau" bekannt gemacht hat. Erst in dem Moment sei ihr aufgefallen, wie normal das lange für sie gewesen sei - und dass ihre Identität stark beeinflusst sei von der ihrer Mutter Anita Lasker-Wallfisch, einer bekannten Musikerin und Zeitzeugin, die am 15. April 1945 in Bergen-Belsen befreit worden war. Sie sprach 2018 zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag.

Geschichte über drei Generationen

Die besagte Tagung über Nachfahren von Schoah-Überlebenden beschreibt Maya Lasker-Wallfisch, Jahrgang 1958, als Befreiung: Sie habe ein Gefühl dafür bekommen, wer sie sei - und das sei "großartig" gewesen. Das geschah 2016. Bis dahin war ihr Leben lange durch Instabilität, Drogen, gescheiterte Beziehungen, psychische Probleme und dem Schweigen innerhalb der Familie geprägt, wie sie in ihrem Buch "Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen" eindrücklich darlegt. Darin geht es um die unbewusste Weitergabe von Verwundungen und Traumata über Generationen hinweg.

Maya Lasker-Wallfisch ist nicht die einzige Autorin, die im Jahr des 75. Gedenkens an die Befreiung von NS-Lagern wie jetzt Bergen-Belsen an die Nachfahren von Holocaust-Überlebenden erinnert: Anfang des Jahres erschien "Leben mit Auschwitz. Momente der Geschichte und Erfahrungen der dritten Generation" von Andrea von Treuenfeld. Darin geht es zwar primär um die Enkel. Dass aber auch diese Generation stark von den Erlebnissen - und dem Schweigen - der Überlebenden geprägt sein kann, macht von Treuenfeld an Beispielen deutlich.

Wie Traumata sich übertragen und wirken

Nun also die "Briefe nach Breslau", die der Suhrkamp Verlag wegen der Corona-Krise am 4. April zunächst nur als eBook veröffentlichte. Die nicht-digitale Ausgabe soll voraussichtlich am 13. Juni vorliegen. Es ist ein unverstelltes Zeugnis dafür, wie stark Traumata in Familien auch bei Mitgliedern wirken, die sie gar nicht selbst erlebt haben. Und wie laut und verunsichernd ein Schweigen über beinahe unsagbare Grausamkeiten sein kann. Das Buch ist zusätzlich die Geschichte dreier Generationen vor dem Hintergrund der Schoah.

Denn die Autorin wendet sich zwischendurch in Briefform an ihre von den Nazis ermordeten Großeltern aus Breslau. Sie hat die beiden nie kennengelernt. Maya Lasker-Wallfisch versucht auf diesem Wege, mit ihren toten Großeltern in Kontakt zu kommen, ihnen die eigene Geschichte und die ihrer Mutter und deren Schwestern zu erzählen.

Und diese Geschichte hat es in sich: Nach Verhaftung und Gefängnis trafen sich Anita und Renate in Auschwitz wieder. Anita spielte Cello im Lager-Orchester. Später wurden die Schwestern nach Bergen-Belsen deportiert, wo die Briten sie befreiten. Nach dem Krieg ging Anita nach London und gründete dort ihre Familie. Maya Lasker-Wallfisch ist benannt nach der dritten Schwester Marianne, die nach England entkam - später aber bei einer Geburt starb. Diese Namensgebung beschreibt die Autorin als Bürde, der sie kaum habe gerecht werden können.

Eine Mutter, die kindliche Bedürfnisse nicht verstand

Unsicherheit, Angst und das Gefühl, nie richtig dazuzugehören: Über Jahrzehnte seien dies ihre Begleiter gewesen. Eine Kindheit mit einer Mutter, die kindliche Bedürfnisse oft nicht verstand: Für sie zählte, dass man am Leben war, schreibt die Tochter. Ein umgebendes Dunkel, gespeist durch Nichtwissen - später schrieb die Mutter erstmals ihre Erlebnisse für Maya und ihren Bruder Raphael auf. Die Tochter trat durch eine Ehe in eine jüdische Gemeinde ein, die zerbrach und aus der ein Sohn hervorging.

Maya Lasker-Wallfisch findet spät einen Weg, mit eigenen Verwirrungen und Verwundungen umzugehen: Sie wird Psychoanalytikerin und arbeitet zu ihrem Lebensthema, der transgenerationalen Weitergabe von Traumata, um diesen Prozess besser zu verstehen. Am Schluss ihres Buchs schreibt sie, dass sie auf der Suche nach einer Wohnung in Berlin sei und seit kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft habe.

Damit habe sich ein Kreis geschlossen: Einst habe die Familie Lasker vergeblich versucht, aus Deutschland zu fliehen. Durch eine Rückkehr nach Deutschland denke sie, "einen Schlusspunkt" zu setzen unter Jahrzehnte des Verlusts, schreibt Maya Lasker-Wallfisch.


KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen / © Holger Hollemann (dpa)
KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen / © Holger Hollemann ( dpa )
Quelle:
KNA