DOMRADIO.DE: Herr Pfarrer Darscheid, eigentlich haben Sie in diesem Jahr allen Grund zum Feiern. Doch das große Fest – unter anderem wollte Erzbischof Woelki Ende Mai dem Sonderzug mit Kranken nach Lourdes einen Besuch abstatten – fällt erst einmal aus. Wie sehr trifft Sie das?
Pfarrer Wilhelm Darscheid (Vorstand des Deutschen Lourdes-Vereins Köln und Pilgerleiter des Sonderzugs): Natürlich ist das eine große Enttäuschung, wenn ausgerechnet die traditionelle Zugwallfahrt über Pfingsten mit den Kranken ausfallen muss. Auch unser Kardinal wird das bedauern, zumal er am Pfingstsonntag als Hauptzelebrant in der Unterirdischen Basilika vorgesehen war, was schon ein ganz besonderes Highlight ist. Vor allem aber hätte uns dieses Zeichen, dass er sich Zeit für die Kranken nimmt und ihnen Trost zuspricht, in unserem Jubiläumsjahr ganz besonders gefreut. Dass das nun nicht geht, ist sehr, sehr schade – vor allem auch für die vielen Pilger, die bereits auf diese Fahrt hingefiebert hatten und in großer Erwartung waren. Diese Vorfreude ist nun binnen kurzer Zeit wie eine Seifenblase zerplatzt. Auch für die Malteser, die immer mit großem Engagement dabei sind. Die Absage ist traurig, aber etwas anderes wäre momentan gar nicht zu verantworten.
Mit dieser Pfingstbegegnung in Lourdes ist über das Glaubenserlebnis hinaus ja immer auch eine große Wiedersehensfreude verbunden, weil es für viele wie ein Familientreffen ist, zu dem man sich in jedem Jahr ganz selbstverständlich wieder verabredet. Gerade die Zugwallfahrt schafft – anders als die Flugwallfahrten – die Gelegenheit, sich im eigentlichen Sinne gemeinsam auf einen längeren Pilgerweg zu machen. Das bedeutet für die Kranken mitunter zwar auch eine Strapaze, je nach Einstiegsbahnhof fast 24 Stunden unterwegs zu sein, aber trotzdem haben bei der Ankunft alle immer strahlende Gesichter. Es tut mir einfach von Herzen leid, dass diese Erfahrung in diesem Jahr so nicht möglich ist.
DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie denn die Kranken bei diesen Fahrten?
Darscheid: Die Kranken haben bei uns immer die Pole-Position; sie stehen auf Platz 1. Wir sorgen aber auch eigens dafür, dass sie bei den Gottesdiensten immer in der ersten Reihe sitzen. Es ist ein wunderbares Miteinander zwischen Kranken und Gesunden, wie man es sonst im Alltag selten erlebt. Alle zusammen machen die Erfahrung, dass das sehr bestärkend ist und immer eine tolle Zeit zum Auftanken, von der gerade die Kranken meistens lange zehren. Auch weil sie bei einer solchen Wallfahrt regelrecht aufblühen und ihnen das neuen Lebensmut gibt. Die Enttäuschung über die Absage sitzt auch deshalb so tief, weil niemand weiß, ob die körperlichen Kräfte bis zum nächsten Jahr noch reichen.
DOMRADIO.DE: Das Wallfahrtsprogramm ist – über Frankreich hinaus – mit Städten wie Fatima, Rom, Loreto, Assisi und vielen anderen Stationen immer recht abwechslungsreich und attraktiv. Nun geht da absehbar aber erst einmal nichts mehr. Die nächsten großen Fahrten sind alle abgesagt. Wie wirkt sich das langfristig auf die Arbeit des Vereins aus?
Darscheid: Das bleibt nicht ohne Folgen. Unser Verein wurde 1880 gegründet, um insbesondere kranke Pilger nach Lourdes zu begleiten. Außerdem engagiert er sich gemeinnützig für die Durchführung von marianischen Pilgerfahrten zu Wallfahrtsorten im In- und Ausland. Im Grunde können wir momentan unser Vereinsziel nicht erfüllen. Besonders hart trifft uns da auch die Absage der Jugendwallfahrt Mitte Juli nach Assisi, die über Padua, San Giovanni Rotondo bis hin nach Pompei führen sollte. Bei solchen Angeboten geht es ja auch um den Nachwuchs und darum, junge Menschen für die Erfahrungen einer Wallfahrt zu begeistern. Deshalb arbeiten wir aktuell daran, diese Fahrt mit neuem Ziel nach Lourdes durchzuführen, und hoffen, dass dies möglich sein wird.
Andererseits sind wir nicht nur eine reine Wallfahrtsorganisation, sondern auch eine Gebetsgemeinschaft. Das heißt, als Mitglied im Deutschen Lourdes-Verein bin ich täglich eingeladen, ein "Vater unser" und "Ave Maria" zur Ehren "Unserer Lieben Frau von Lourdes" zu beten. Auch außerhalb der Wallfahrten versuchen wir, die Gemeinschaft der Pilger zu fördern, beispielsweise durch eine Marienmesse in Neviges, die nun immer Anfang Mai stattfinden soll und bei der auch eine Sakraments- und Lichterprozession sowie ein Segen mit der Reliquie der Heiligen Bernadette vorgesehen sind, die sich dauerhaft im dortigen Mariendom befindet. Das ist ebenfalls nicht an Lourdes gebunden und kann hier vor Ort stattfinden. So wie wir auch im Oktober gerne unsere Marienfeier im Kölner Dom abhalten, die hoffentlich dann wieder unter den gewohnten Bedingungen stattfinden kann.
DOMRADIO.DE: Nun bietet der Lourdes-Verein ja auch Fahrten nach Fatima an. Was sind denn die Unterschiede zu Lourdes? Haben Sie da persönlich eine Vorliebe?
Darscheid: Jeder Wallfahrtsort hat sein Gepräge. Während in Lourdes die Begleitung der Kranken im Mittelpunkt steht, ist für mich in Fatima faszinierend, wie die Aussagen Mariens in die Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute eingewoben sind und sich göttliches Heilsgeschehen mit geschichtlichen Fakten verknüpft. An der Geschichte der Seherkinder, denen erstmals am 13. Mai 1917 Maria erschienen ist, lässt sich das ablesen. Diese Marienerscheinung wiederholte sich danach im Monatsrhythmus über ein halbes Jahr lang. Bei der am 13. Juli sprach Maria den Angaben der Kinder zufolge erstmals Prophezeiungen aus, die als "Geheimnisse von Fatima" bekannt wurden und die sich auf das Ende des Ersten Weltkriegs, den Beginn des Zweiten Weltkrieges, eine Vision der Hölle, die die Einladung zur Umkehr vertieft, und das Leiden von Kirche und Welt bis zum Attentat auf einen "Bischof in Weiß" beziehen
Diese Aussage wird auf Johannes Paul II. hin gedeutet, der sein Überleben des Attentats auf dem Petersplatz am 13. Mai 1981 ausdrücklich dem Schutz der Muttergottes von Fatima zuschrieb. Der Papst war überzeugt, dass eine Hand die Kugeln abgeschossen und eine mütterliche Hand deren Flugbahn geleitet hat. Zum Dank pilgerte er ein Jahr später nach Fatima und übergab dort die Kugel, die heute in die Krone der Originalstatue der Muttergottes von Fatima eingearbeitet ist. An jedem 13. eines Monats versammeln sich hunderttausende Gläubige in diesem Wallfahrtsort. Trotzdem ist diese Menschenmenge nie erdrückend und die Gebetsatmosphäre ausgesprochen wohltuend.
DOMRADIO.DE: In Lourdes gibt es mittlerweile 70 anerkannte Wunder. An der Grotte hoffen nicht wenige Menschen selbst auch auf ein Wunder: dass sie von einer Krankheit geheilt werden oder in einer aussichtslosen Situation Trost erfahren. Auch die Krankensalbung und Seelsorgegespräche, die Sie dort anbieten, sollen zu einer Stärkung beitragen. Wie erleben Sie als Pilgerleiter die Menschen, die sich auf den Weg zu einem Gnadenort machen?
Darscheid: Das sind Menschen mitten aus dem Leben, mit ihren Sorgen und Nöten. Manche werden auch von anderen beauftragt, doch eine Kerze vor der Marienstatue für sie anzuzünden oder das berühmte Lourdes-Wasser mitzubringen, an dessen Heilkraft sie glauben. Andere befinden sich in einer Suchbewegung ihres Glaubens. Sie spüren eine große Sehnsucht, durch ihr Unterwegssein zu einem Gnadenort gestärkt zu werden, und erleben sich in einer großen Glaubensgemeinschaft miteinander verbunden, was sie in Lourdes noch einmal anders als zuhause erfahren. Und sie fragen dann danach, wie sie eine solche Erfahrung in ihren Alltag hinüberretten können, damit nichts von dieser geistlichen Inspiration verloren geht. Das Miteinander in der Pilgergruppe, das Gebet in der Stille an der Grotte oder die Krankensalbung werden für sie zu einem kostbaren Schatz. Manch einer entdeckt auch die Geheimnisse des Rosenkranzes für sich neu und reflektiert darüber sein eigenes Leben.
DOMRADIO.DE: Die traditionelle Pfingstwallfahrt mit dem Malteser-Krankentransport findet diesmal, wie gesagt, nicht statt, war aber – wie immer – sehr gefragt. Nach wie vor zählen viele Menschen auf diese Art des Beistands und Trostes. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Darscheid: Anders könnte man auch fragen: Was ist das Wunder von Lourdes? Nun, da kann ich nur für mich antworten: An der Grotte von Massabielle berühren sich Himmel und Erde. Hier fühle ich eine räumliche und innere Nähe zu Gott. Er schaut mich an und weiß um mich. Er kennt mich, weiß, was mich bewegt und womit ich auf der Suche bin. Bei einer Wallfahrt mache ich mich auf den Weg, um meinen Glauben intensiver zu erleben und Gott zu begegnen. Ich vertraue darauf, dass er nah bei mir ist und mich führt. Und ich freue mich, die Pilger dabei auch als Priester im Gebet, den Gottesdiensten und Gesprächen begleiten zu können. Dabei lassen wir uns wie die Heilige Bernadette von Maria leiten. Für viele Pilger äußert sich ihre Motivation zu einer solchen Reise mehr als Bitte, bei anderen als Freude oder Dankbarkeit. Je nach Lebensphase. Am Ende erlebe ich ein großes Vertrauen, dass uns Gott immer begegnet – auch wenn das nicht jeden Tag gleich intensiv ist.
DOMRADIO.DE: Vor zwei Jahren mussten Sie schon einmal erfinderisch werden, als in Frankreich gestreikt wurde und deswegen die Züge nicht fahren konnten. Am Ende haben Sie improvisiert und Busse eingesetzt. Gibt es einen solchen Plan B, je nach dem wie lange die Pandemie noch anhält, grundsätzlich auch für die kommenden Monate – so nach dem Motto "Die Hoffnung stirbt zuletzt"?
Darscheid: Für uns Christen stirbt die Hoffnung nie. Ich hoffe, dass die Herbstwallfahrten stattfinden können. Aber seriös kann das natürlich im Moment niemand voraussagen. Tatsache ist, dass die Heiligtümer in Fatima und Lourdes lange geschlossen waren und erst allmählich wieder öffnen – allerdings zunächst nur für ganz kleine Gruppen – und das von daher für uns leider nicht viel ändert. Dabei schmerzt mich besonders, dass wir uns in einem Jubiläumsjahr befinden und es mehr als bedauerlich wäre, wenn man eines Tages auf dieses Jahr zurückschaut und feststellen müsste, dass ausgerechnet zu diesem runden Geburtstag keine Wallfahrt stattfinden konnte. Das wäre für mich persönlich schon ein kleines Drama. Aber natürlich hat die Gesundheit vor allem Vorrang.
DOMRADIO.DE: Bei diesem Jubiläum können Sie sich auf den Glauben vieler Ihrer Vorgänger stützen…
Darscheid: Grundsätzlich sind 140 Jahre ein langer Zeitraum, in dem sich über Generationen hinweg eine große Zahl an Priestern, Ärzten und Reiseleitern für die heilsame Stärkung zigtausender Pilger an Leib und Seele eingesetzt haben. Trotzdem geht es nicht um Zahlen, sondern um die Menschen dahinter, die die Idee des Pilgerns unterstützt und gelebt haben. Von daher stehen wir in einer langen Tradition, die wir – trotz Corona – auch in diesen Tagen mit Leben füllen wollen. Dabei geht es auch um Glaubensweitergabe. Denn es sind die Pilger, die durch die Generationen den Wunsch und die Sehnsucht weitertragen, sich von der Botschaft dieser Wallfahrtsorte berühren zu lassen.
DOMRADIO.DE: Corona fordert im Moment viele dazu heraus, ihr Leben noch einmal neu zu denken. Öffentliche Gottesdienste finden erst seit wenigen Wochen und auch nur mit geringer Teilnehmerzahl wieder statt. Was ist Ihre persönliche Hoffnung, wie unsere Welt – vielleicht auch unsere Kirche – nach der Krise aussehen wird?
Darscheid: Diese Krise ist nicht das Ende. Trotzdem glaube ich, dass es eine Welt ohne Corona nicht mehr geben wird und wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Als Seelsorger hoffe ich inständig, dass wir dauerhaft wieder zu anderen Formen des Miteinanders kommen und sich Menschen nicht einsam fühlen, weil wir sie nur in begrenztem Maße und unter hohen Auflagen besuchen dürfen. Ich glaube, dass wir gerade in dieser Zeit sensibler werden für das, was nicht mehr selbstverständlich ist, und es bewusster schätzen lernen. Wir erfahren gerade, dass wir für das, was uns etwas bedeutet, etwas tun müssen, wenn wir es behalten wollen. Wir bekommen ein anderes Bewusstsein für das, was unser Leben bereichert.
DOMRADIO.DE: Das heißt konkret?
Darscheid: Wie wertvoll etwas ist, spüren wir erst, wenn wir es vermissen. Durch das Aussetzen der Gottesdienste – was bislang einzigartig in der Kirchengeschichte ist – haben viele Menschen erlebt, dass sie diesen Kontakt zueinander brauchen, im Glauben miteinander verbunden bleiben wollen, aber sich auch für Schwächere einsetzen und nicht warten wollen, bis der andere etwas tut. Das bringt uns ganz automatisch zu Überlegungen, wie wir – auch in unserer Kirche – neue Formen des Umgangs miteinander finden können. Als Pfarrer nehme ich in den Gemeinden viele Aktivitäten und das starke Sehnen wahr, das Evangelium leben zu wollen. Diese Bewegungen ermutigen mich für unsere weitere Kirchenentwicklung. Denn es wird auf das, was wir zukünftig tun und wie wir uns verhalten und positionieren, ankommen. Es wird das Prägende sein, was eine Gemeinde lebendig hält und Christus unter uns ein Gesicht, Hände und Füße gibt. Und ich bin mir sicher, da bricht gerade etwas Neues auf.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti (DR)