Kölner Domkantor über Kirchenmusik in Zeiten von Corona

"Ich vermisse jede einzelne Chorsängerin"

Musik in der Liturgie hat immer eine Schlüsselfunktion. Erst recht in Zeiten, in denen Improvisation und Kreativität gefragt sind. Jedenfalls stellen sich seit Mitte März auch die Dommusiker der aktuellen Herausforderung. Oliver Sperling erklärt, wie.

Mädchenchor am Kölner Dom (Archiv) / © Beatrice Tomasetti (DR)
Mädchenchor am Kölner Dom (Archiv) / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Herr Sperling, als am 13. März der Shutdown kam und Sie an diesem Wochenende die letzte Chorvesper gesungen haben, war noch nicht wirklich absehbar, dass es fast zwei Monate keine öffentlichen Gottesdienste geben würde – und vor allem bis auf Weiteres auch keinen Chorgesang. Trotzdem haben Sie in der Dommusik sofort den Schalter umgelegt und für exzellenten Musikgenuss innerhalb der Liturgie gesorgt. Dafür gab es von allen Seiten viel Lob. Woran haben Sie sich da orientiert?

Oliver Sperling (Domkantor und Leiter des Mädchenchores am Kölner Dom): Das war von Anfang an eine Teamleistung. Wir drei Chorleiter am Dom – Domkapellmeister Metternich, Winfried Krane und ich – haben uns umgehend zusammengesetzt und Ideen gesammelt, sie vor allem aber auch auf ihre Machbarkeit hin geprüft. Das heißt: Was passt in den Raum? Und kann dort die von uns angedachte musikalische Kommunikation eines Kantorengesangs gelingen? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Für all das gab es ja keine Routine. Eher war Phantasie gefragt. Schließlich sollten zunächst die Früh- und Abendmesse in der Marienkapelle stattfinden. Erst mit Beginn der Karwoche wurde dann entschieden, dass unser Erzbischof die Sonntagsgottesdienste um 10 Uhr in der Vierung feiern würde. Für die täglichen Domradio-Übertragungen aus der Marienkapelle wollten wir – neben unseren beiden Domorganisten – auch die Assistenten der Dommusik und die Kollegen aus der Innenstadt einbeziehen und haben dafür entsprechende Dienstpläne erstellt, was sehr viel Abstimmungsarbeit erforderlich gemacht hat, aber eben auch einige andere Kirchenmusiker mit ins Boot geholt hat.

DOMRADIO.DE: Das heißt, statt Kapitels- und Pontifikalämter vorzubereiten, wie es vorrangige Aufgabe der Dommusik ist, ging es nun um die Gestaltung der täglichen Liturgie…

Sperling: Genau. Und immer sollte es ja nicht nur der täglichen Liturgie, sondern auch der allgemeinen Situation gemäß "passend" sein. Neben freien Psalmen-Improvisationen haben wir zum Teil zu den Werktagen entsprechende Literatur herausgesucht und erst in einem zweiten Schritt dann entschieden, ab der Karwoche die besonderen Gottesdienste mit Quartetten zu gestalten, bei denen jeweils vier Sänger aus unseren vier Domchören eine Solo-Stimme übernommen haben. In der Summe haben alle mit viel Engagement und Impetus versucht, trotz großer Einschränkungen und einer völlig veränderten Ausgangslage die neu entstandene Situation als Herausforderung und Chance zu nutzen, um die vielen Menschen an den Bildschirmen zu erreichen, sie mit Liedern aus dem Gotteslob einzubeziehen und ihnen gleichzeitig durch den solistischen Gesang auch etwas bislang für die Sonntagsmesse eher Ungewöhnliches anzubieten, das sie in diesem Kontext normalerweise so nicht kennen.

DOMRADIO.DE: Das Ganze hatte vermutlich auch Experimentiercharakter, da es eine vergleichbare Situation ja so noch nie gegeben hatte. Gleichzeitig war Ihnen bewusst, dass alles live stattfindet und das Domradio eine enorme Reichweite hat…

Sperling: Jedenfalls ist es ein wachsendes Projekt gewesen. Wir hatten ja mit einem Mal alle Zeit der Welt – auch um mal etwas auszuprobieren. Zum Beispiel habe ich einmal das Kinderchorlied "Halt dich an meiner Liebe fest" herausgesucht oder das Volkslied "Der Mond ist aufgegangen", in dessen vierter Strophe es am Ende heißt: "So legt euch denn ihr Brüder in Gottes Namen nieder. Kalt weht der Abendhauch. Verschon' uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen – und unsern kranken Nachbarn auch." Da bekommt ein solcher Text, den man eigentlich schon unzählige Male gesungen hat, in einer neuen Situation plötzlich eine ganz andere Qualität. Worauf es übrigens viele positive Rückmeldungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum gab. Viele Zuhörer haben da etwas mitempfunden. Etwas Schöneres kann man sich eigentlich nicht wünschen, als die Menschen mit einer solchen Musik wirklich zu erreichen, ihnen damit vielleicht sogar aus der Seele zu sprechen und auch Trost zu vermitteln.

Nach der Erweiterung vom einstimmigen Kantorengesang zum vierstimmigen Solisten-Ensemble zwischen Palmsonntag und der Osteroktav ergab sich dann die Idee, den mehrstimmigen Gesang aus den eigenen Chorreihen zu realisieren. Das war nach dem Bisherigen ein Quantensprung, sollte aber allen Mitfeiernden zuhause die Möglichkeit einräumen, mit diesem Ensemble, das nun stellvertretend für die Gemeinde stand, die Liturgie nachzuvollziehen. Denn natürlich blutete vielen ja auch das Herz, diese Gottesdienste nicht in gewohnter Weise mitfeiern zu können.

DOMRADIO.DE: Diese Quartettbildung im Hochchor bzw. vor dem Dreikönigenschrein – selbstverständlich unter Einhaltung aller Abstands- und Hygieneauflagen – haben Sie dann, auch weil sie so großen Anklang fand, beibehalten und einmal sogar zu einem Quintett aus den Reihen des Mädchenchores erweitert. Und an diesem Himmelfahrtstag sind es jetzt sechs Studierende der Kölner Musikhochschule, die eine Renaissance-Messe von William Byrd singen werden. Das heißt, jeder fungiert eigentlich als Solist. Zahlt sich die jahrelange Stimmbildung, wie sie zum Konzept der Dommusik gehört, nämlich die einzelne Stimme zu fördern, nun aus?

Sperling: Alle Chormitglieder zeigen zweifelsohne einen hohen persönlichen Einsatz und melden sich zu diesen Auftritten freiwillig. Und auch wenn der eine oder andere durchaus ein Solo stemmen kann, handelt es sich in der Regel nicht um einen ausgebildeten Solisten, sondern immer noch um einen Chorsänger. Umso bemerkenswerter ist ein solcher Auftritt, der live hinaus in die Welt geht. Dazu gehört schon eine Menge Mut. Schließlich ist jeder – gerade auch wegen des großen Abstands – auf sich alleine gestellt. Die Live-Aufnahme entschuldigt keine Schieflage in der Intonation. Es gibt kein Netz und keinen doppelten Boden. Da steht eben dann kein Chor, der etwas auffängt und ausgleicht. Pädagogisch gesehen, bekommt die musikalische Selbständigkeit eines Chormitglieds dadurch einen enormen Schub. Aber dem muss man auch erst einmal gewachsen sein und die Verantwortung tragen können, stellvertretend für alle anderen zu singen. Als Chorleiter und Sänger habe ich vor einer solchen Leistung absolute Hochachtung.

Und ja, das Konzept der individuellen Förderung geht auf. Eigentlich immer, auch wenn es hier besonders augenscheinlich wird. Je mehr jemand aufgrund seiner stimmlichen Vorbildung der eigenen Stimme vertrauen kann, desto sicherer ist er. Deshalb sind wir in der Dommusik momentan ja auch so dankbar, dass sowohl die Stimmbildung als auch der Instrumentalunterricht inzwischen wieder eins zu eins – statt nur digital – möglich sind.

DOMRADIO.DE: Nach welchen Kriterien suchen Sie im Moment die Literatur für die Sonntags- und Feiertagsmessen aus? Folgen Sie da irgendwelchen Vorgaben?

Sperling: Da handeln wir als Kirchenmusiker weitestgehend eigenverantwortlich und leiten unsere Vorschläge weiter. Jeder von uns Chorleitern entwickelt letztlich seine eigenen Ideen, die sicherlich noch nicht ausgereizt sind. Alle Chöre verfügen über ein großes Repertoire, aus dem sich noch so einiges für diese besonderen Zeiten schöpfen lässt. Ich könnte mir auch die Begleitung weniger Sänger durch ein Orgelpositiv oder einen Flügel im Chorraum vorstellen, wozu es eine ganze Menge an Literatur gäbe. Also, da ist noch eine Menge Luft nach oben und der musikalischen Kreativität keine Grenze gesetzt.

DOMRADIO.DE: Bislang aber haben Sie alles a cappella gesungen – am Karfreitag sogar eine komplette Passion, in der Sie den Part des Evangelisten übernommen haben. Nur mit einer Stimmgabel in der Hosentasche stelle ich mir das nicht einfach vor. Wie hoch ist da der Stressfaktor?

Sperling: A cappella zu singen ist und bleibt in der Tat die Königsdisziplin. Natürlich ist der Anspruch: Die Einzelstimme muss sauber intonieren. Aber auch der Gesamtklang muss stimmen. Wie gesagt: Fehler werden nicht verziehen und ein Austarieren durch den Chor gibt es in einem solchen Fall nicht. Insofern bleibt man ganz auf sich gestellt, während instrumentgestütztes Singen psychologisch eher etwas entspannend wirken kann.

DOMRADIO.DE: Wo sonst 150 Mädchenstimmen zu hören sind, stehen Sie im Moment so ziemlich alleine da. Wie sehr fehlt Ihnen der vertraute Chorklang?

Sperling: Als ich vor gut zwei Wochen die erste Probe zu besagtem Quintett mit den Sängerinnen meines Chores hatte, war das nach einigen digitalen Proben das Größte überhaupt. Ich hatte mal wieder mit leibhaftigen singenden Menschen zu tun. Ehrlich gesagt, vermisse ich jede einzelne Sängerin. Ich habe am Sonntag die Kommunionkinder vermisst, für die ich ein eigenes Lied komponiert habe, ich vermisse die Viertklässler, die erst wenige Wochen vor dem Lockdown offiziell in die große Chorgemeinschaft aufgenommen worden sind. Ich vermisse die jüngeren Mädchen des A-Chores, die nach dem Christi Himmelfahrts-Pontifikalamt zu einem Chorwochenende gefahren wären, meine "mittleren" Kammerchor-Mädchen der 7. bis 9. Klassen, von denen die ältesten ja nach dem Sommer in den eXtra-Chor wechseln würden, und meine Ältesten im eXtra-Chor mit den 18 Abiturientinnen, die gerade in ihren Prüfungen stecken. Wer weiß schon, wann wir uns zum gemeinsamen Singen wieder sehen werden.

Jeder Jahrgang würde nach den Ferien in die nächst höhere Chorstufe aufsteigen, was aber jetzt erst einmal in den Sternen steht, weil einfach keine Proben stattfinden. Darüber hinaus vermisse ich auch die vielen Gemeinschaftserlebnisse – und nicht nur die musikalischen. Auch um die persönlichen Erlebnisse und Glücksmomente im gemeinsamen Chorleben, die gerade wegfallen, aber an die sich die Sängerinnen in der Regel noch Jahre später erinnern, tut es mir von Herzen leid. Ich kann nur dazu ermuntern, jetzt so viel wie möglich für sich selbst zu singen, weil es einfach gut tut und nebenbei auch die Stimme trainiert.

DOMRADIO.DE: Sie sprechen es an: Zurzeit fehlt die Gemeinschaft des Chores, aber im Kirchenraum auch die der Gemeinde. Wie ist das denn für Sie persönlich, trotz der 122 zulässigen Gottesdienstteilnehmer in einem gefühlt leeren Dom zu musizieren?

Sperling: Das ist für mich immer noch unwirklich und ein tieftrauriges Erlebnis. Außerdem widerspricht es unserem Selbstverständnis als Kirchenmusiker. Wir können nichts initiieren und motivieren, sondern nur stellvertretend für die fehlende große Domgemeinde agieren. Eigentlich erwarte ich als Vorsänger ein Echo, das aber ausbleibt. Es ist schon ein eigentümliches Gefühl, so zu singen, dass das mehr einer Vermeidungsstrategie gleichkommt, wenn eben die wenigen erlaubten Mitfeiernden momentan ausdrücklich dazu angehalten sind, nicht mitzusingen.

Aber es macht einem gleichzeitig auch die große Verantwortung bewusst, wenn man weiß: Außer mir singt gerade niemand. Alle schauen auf mich. Auf mich kommt es nun an. Es ist an mir, das Wort Gottes mit meinem Gesang zu verkündigen – gerade weil es nicht meine eigenen Worte sind, sondern Texte, die ich mir aneigne. Da wird man – in aller Demut – schon sehr auf sich selbst zurückgeworfen. Und dennoch: In dieser Stellvertreterrolle wird eine große geistliche Tiefe spürbar, die mich – neben dem Teamgeist unter uns Dommusikern und natürlich meiner eigenen Familie – durch diese Zeit trägt.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.


Oliver Sperling / © Beatrice Tomasetti (DR)
Oliver Sperling / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR
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