KNA: Ende Mai hat Ungarn seine Transitzonen für Flüchtlinge geschlossen. Ihre Regierung folgte damit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Seit Jahren wird Ungarns Flüchtlings- und Migrationspolitik international kritisiert. Stellt man die Aussagen und Gesten von Papst Franziskus dagegen, muss Ungarns Botschafter beim Vatikan doch einen Spagat hinlegen, der ihn zu zerreißen droht ...
Eduard Habsburg (Botschafter Ungarns beim Heiligen Stuhl): Natürlich kann es zwischen zwei Ländern nuanciert unterschiedliche Meinungen zu politischen und sozialen Themen geben.
In den vergangenen fünf Jahren habe ich die Aussagen von Papst Franziskus vor allem zum Thema Migration sehr genau gelesen. Da sehe ich Aussagen, die ein bisschen querstehen zu Elementen der ungarischen Migrationspolitik. Und ich sehe Aussagen, die sehr auf Ungarns Linie liegen ...
KNA: Zum Beispiel?
Habsburg: Anfangs hat Papst Franziskus sehr dagegen gesprochen, Zäune und Mauern zu errichten. Dann las man Aussagen wie jene, dass Migranten und Flüchtlinge die Werte des Aufnahmelandes respektieren sollen. Uns Botschaftern sagte er vor Jahren, ein Land müsse gut überlegen, ob es Migranten aufnehmen kann, ob dies von der Kultur her überhaupt möglich ist. Die Visegrad-Staaten haben so gut wie keine muslimischen Bevölkerungsteile. Wie gut also kann man dort große Mengen muslimischer Migranten aufnehmen und integrieren? Es ist beim Papst durchaus Verständnis sichtbar für verschiedene Ansätze in der Migrationspolitik. Davon abgesehen nehmen wir durchaus Flüchtlinge auf.
KNA: Wie viele?
Habsburg: 2016 waren es 432, 2017 dann 1.291, 2018 gingen die Zahlen auf 367 zurück. Aber Ungarn engagiert sich auch in Ländern des Nahen Ostens oder in Nigeria, damit Menschen ihr Land gar nicht erst verlassen müssen.
KNA: Aber die Tonalität ist doch eine andere. Mehrfach hat der Papst vor zunehmend nationalistischen und hasserfüllten Reden gewarnt.
Unter den Namen, die einem dazu einfallen, ist Ihr Ministerpräsident.
Wie stehen Sie als Botschafter und als bekennender Christ dazu - können Sie erklären, warum Viktor Orban so auftritt, wie er auftritt?
Habsburg: In Ungarn ist die Kultur der "political correctness", an Aussagen so lange zu schleifen, , bis sie für die meisten Menschen akzeptabel sind, nicht wirklich Teil der Kultur. Der Ungar sagt Sachen gerne sehr direkt und manchmal ein bisschen rotzig heraus; dabei fragt er sich nicht immer, wie das außerhalb Ungarns ankommt.
Das dürfen dann Botschafter erklären. Viktor Orban hat eine sehr direkte Art, die Dinge auszusprechen.
KNA: Orban regierte in der Pandemie per Dekret, was als weitere antidemokratische Maßnahme gesehen wurde ...
Habsburg: Das wurde jetzt wieder beendet, wie übrigens von Beginn angekündigt. Trotzdem hat ganz Europa «Diktatur» geschrien.
KNA: Ebenfalls in der Kritik sind fehlende Meinungs- und Pressefreiheit.
Habsburg: Ich glaube, es ist oft genug klar gestellt geworden, dass das Fake-News ist.
KNA: Der für September geplante Eucharistische Weltkongress in Budapest wurde um ein Jahr verschoben. Arbeiten Sie schon an dem aufgeschobenen Besuch des Papstes?
Habsburg: Wir sind voller Hoffnung, dass er kommt, und glauben, entsprechende Signale gesehen zu haben. Wir warten noch ab, bis der Vatikan dazu etwas sagt.
KNA: Welche Rolle spielt die katholische Kirche heute noch in Ungarn?
Habsburg: 63 Prozent der Ungarn sind Katholiken, 15 Prozent reformiert-calvinistisch. In der Regierung hingegen ist ein größerer Teil der Minister reformiert - wie Orban selber. Historisch gesehen waren die Calvinisten oft präsenter und deutlicher hörbar, weil sie mehr um ihre Position haben kämpfen müssen. Die Katholiken hatten immer das Kaiserhaus in Wien hinter sich.
KNA: Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gab es in Europa Spannungen, teilweise hässliche Töne von Politikern wie von Medien.
Wie ist die EU bisher mit der Pandemie umgegangen?
Habsburg: Es war ein Lernprozess. Ich glaube, dass alle überfordert waren, von dem, was da auf uns zukam. Auch die Tatsache, dass der erste große Krisenherd weltweit Norditalien war, hat alle überfordert. Ich habe das Gefühl, dass sich jetzt alles langsam einpendelt. Die letzten Monate sehe ich als einen Testlauf; es kann ja sein, dass uns so etwas wieder einmal bevorsteht, vielleicht auch in schlimmerer Form.
KNA: Anders als die meisten Diplomaten sind Sie sehr auf Twitter aktiv. Gibt es im politischen Gespräch noch Vertraulichkeit oder werden wir eine Gesellschaft, die nur noch auf Reflexe und Stimmungen reagiert?
Habsburg: Das ist eine ganz gefährliche Angelegenheit. Die meisten Menschen sind sich noch gar nicht klar darüber, wie sehr ihr Alltag, ihr Denken, ihre Meinung beeinflusst wird von der großen Social-Media-Blase - von normalen Bürgern bis zu hohen Politikern.
Ich ertappe mich jeden Morgen dabei, als erstes Twitter anzumachen.
Nach fünf Minuten bin ich taub, weil ich etwa den katholischen Diskussionen in Amerika folge, die derzeit stark den Diskurs prägen.
Die amerikanische katholische Twitter-Welt von Progressiveren hin zu Konservativen ist laut, präsent - und prügelt sich.
KNA: Wie bewerten Sie die auch in den Sozialen Medien geführten teils heftigen Auseinandersetzungen um Papst Franziskus und seine Art, die Kirche zu leiten?
Habsburg: Ein Papst wie Franziskus, der klare politische Positionen vertritt, wird immer polarisieren. Trifft das auf eine stark polarisierte Social-Media-Welt, haben Sie einen Riesen-Streit.
Franziskus hat sich entschieden, klare Positionen zu vertreten. Das spaltet, polarisiert. Aber deswegen nimmt er sich nicht zurück. Das ist gut so.
KNA: Einige andere Familien wie die Liechtenstein oder die Hohenzollern versuchen, im Zweiten Weltkrieg verlorenen Besitz gerichtlich zurückzuerlangen. Gibt es in Ihrer Familie ähnliche Bestrebungen?
Habsburg: Es gibt Leute, die sagen, der österreichische Staat habe Privatbesitz der Habsburger enteignet. Das mag auch so sein. Aber es gibt bei uns aktuell keine aktiven Bestrebungen in dieser Richtung.
KNA: Nach fünf Jahren in Rom: Haben Sie einen Lieblingsort hier?
Habsburg: Meinen Lieblingsort habe ich direkt vor meinem Schlafzimmerfenster: die Aurelianische Mauer. Wenn mir die Arbeit und der Lärm im Internet zu viel werden, lege ich mein Handy weg und marschiere in Turnschuhen und Jeans diese Mauer entlang, ein Bauwerk aus dem Jahr 270 nach Christus. Da habe ich die ganze Geschichte Roms vor mir, das relativiert die Hektik des Alltags erheblich.
KNA: Wer die Geschichte der Habsburg kennenlernen will, an welche Orte sollte der sich begeben?
Habsburg: Sie kommen nicht umhin, die Habsburg im Schweizer Kanton Aargau zu besuchen, eine kleine Burgruine auf einem Hügel, an dem unten die Autobahn vorbeiführt, wo unsere bescheidenen Anfänge - ich will nicht sagen als Raubritter - zu spüren sind. Das Zweite ist natürlich Wien. Sie müssen in die Kapuzinergruft, weil es unglaublich ist, an diesen ganzen Särgen vorbeizugehen und dabei die Lebensgeschichten der dort Bestatteten zu betrachten. Unser Familienoberhaupt Karl würde sagen, dass Sie auch unbedingt nach Amsterdam müssen.
KNA: Warum?
Habsburg: Die Habsburger hinterließen ihre Spuren nicht nur in Österreich und der Schweiz, sondern auch in den damaligen spanischen Niederlanden.