Eine Reihe von Missbrauchsfällen erschüttert Nordrhein-Westfalen. Die Täter haben sich offenbar vielfach an Mädchen und Jungen vergriffen, die ihnen anvertraut waren - die eigenen Kinder, Pflegekinder oder Kinder der Partnerin. Zugleich bestätigen Praktiker aus der Sozialarbeit, wovor sie seit Mitte März gewarnt hatten: Alles deutet darauf hin, dass die Gewalt in den Familien während des Corona-Lockdowns gestiegen ist.
Seit 20 Jahren haben Kinder in Deutschland ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. "Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig" steht seit 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch - und immer noch sehen Experten Handlungsbedarf, gerade was sexuelle Gewalt angeht.
Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung
"Es bleibt Etliches zu tun", sagt zum Beispiel die Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes NRW, Gaby Flösser. Die Organisation fordert härtere Strafen für Missbrauchstäter und eine Enttabuisierung des Themas in der Öffentlichkeit. Kinder müssten sich im Schnitt an sieben Anlaufstellen wenden, bevor sexueller Missbrauch erkannt werde, so Flösser. Die Pädagogikprofessorin macht sich deshalb für mehr Achtsamkeit auch von Lehrern, Erziehern und Nachbarn stark. "Wir müssen eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit dafür schaffen, was Gewalt sein kann und wo Gewalt vorkommt."
Am 6. Juli 2000 beschloss der Bundestag das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Vier Monate später trat es in Kraft. Bis es so weit war, musste das Gesetz jedoch einen langen Weg nehmen. Während Körperstrafen an Schulen in der DDR von Anfang an verboten waren, durften Lehrer in den meisten Ländern der Bundesrepublik bis 1973 zuschlagen - in Bayern sogar bis 1983. Anders die Situation in den Familien: Die Eltern hatten weiterhin ein gesetzlich verbrieftes Recht auf körperliche Züchtigung. Bis 1958 stand dieses Recht übrigens nur dem Vater zu - dann trat das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft.
Gesetz bedeutete auch einen Paradigmenwechsel
Anfang der 1990er Jahre schloss sich Deutschland schließlich der UN-Kinderrechtskonvention an. Das Dokument dringt darauf, Kinder vor Gewalt und Misshandlung durch die Eltern zu schützen. Die Umsetzung in Deutschland war dennoch umstritten. "Eine Ohrfeige hat noch keinem Kind geschadet", "So sind wir auch groß geworden", "Der Staat hat sich nicht in Familien einzumischen" - lauteten die Vorbehalte, wie sich Marlis Herterich vom Kinderschutzbund Köln erinnert.
Das Gesetz von 2000 sei ein Paradigmenwechsel gewesen, so Herterich - nämlich dahingehend, dass Kinder eigene Rechte haben. Wenn Väter und Mütter heute gewalttätig würden, stecke oft Überforderung dahinter, glauben die Expertinnen. Das sei auch in der Corona-Krise deutlich geworden. "Wir nehmen bei den Familien, mit denen wir in Kontakt sind, wahr, dass der Druck gestiegen ist", berichtet die fachliche Leiterin des Kinderschutzbundes Köln, Maria Große Perdekamp. In der Dom-Stadt habe es zwar nicht mehr Inobhutnahmen gegeben. Seit Ende der strengen Kontaktbeschränkungen verzeichne die Organisation aber wieder mehr Meldungen, etwa durch Lehrer.
Familien in der Corona-Krise
"Corona macht sehr drastisch sichtbar, unter welchen Bedingungen Kinder in unserer Gesellschaft aufwachsen", so Große Perdekamp. Kinder und Eltern brauchten mehr niedrigschwellige Angebote, an die sie sich wenden könnten. Der Kinderschutzbund fordert zudem mehr Geld für Beratungsstellen.
Einen ganz anderen Aspekt rückt Komikerin Cordula Stratmann in den Vordergrund. Für den Kinderschutzbund wirbt die Entertainerin, die auch immer wieder in der Quizsendung "Wer weiß denn sowas?" zu sehen ist, für gewaltfreie Erziehung. "Kinder brauchen Eltern", betont Stratmann. Daher müsse ein Zusammenhang zwischen Gewalt an Kindern und Elternschaft hergestellt werden. Viele Männer zeigten aber in ihrer Rolle als Vater zu wenig Engagement. "Wir haben bis heute ein Problem mit männlichen und weiblichen Rollenbildern", sagt Stratmann und warnt: "Wir hinterlassen extrem bedürftige Kinder, wenn wir unsere Aufgabe an Elternschaft nicht übernehmen."