DOMRADIO.DE: Schon bei der Bezeichnung gibt es Unterschiede: Für die einen ist es die "Antibabypille", für die anderen die "Kinderwunschpille". Welche Bezeichnung halten Sie für angemessener?
Prof. Dr. Stephan Goertz (Moraltheologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz): Ich würde eine Bezeichnung verwenden, die nicht bereits eine moralische Wertung enthält. Die Pille ist ein hormonelles Kontrazeptivum, also Verhütungspille könnte man sagen. So spricht natürlich in Deutschland kaum jemand. Aber für eine ethische Überlegung ist es wichtig, das Urteil nicht schon in den Sprachgebrauch hinein zu schmuggeln.
DOMRADIO.DE: Für die weibliche Welt bedeutete die "Antibabypille" einen wesentlichen Beitrag zur sexuellen Selbstbestimmung und eine Befreiung von der Last unerwünschter Schwangerschaften. Wie sah denn bis dahin die Realität für die meisten Frauen aus?
Goertz: Das Neue an dieser Form der Antikonzeption ist, dass nun eine Frau selbst für sich eine Entscheidung für eine relativ sichere Methode der Verhütung treffen kann. Und im Unterschied etwa zur Benutzung eines Kondoms nicht vom Willen und Mitwirken ihres Partners abhängig ist. Wenn man diesen Freiheitsgewinn nicht wahrnimmt, wird man nie zu einer moralisch gerechten Beurteilung gelangen. Die katholische Tradition tut sich bis heute schwer, Frauen als verantwortliche Subjekte ihrer eigenen Sexualität anzuerkennen.
DOMRADIO.DE: Nun sieht die katholische Morallehre ja vor, dass "jeder eheliche Akt von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben" müsse, wie es in der Enzyklika "Humanae vitae" heißt. Warum vertritt die Kirche diesen Standpunkt?
Goertz: Sie haben Recht: Die katholische Lehrmeinung ist an dieser Stelle eindeutig ablehnend gegenüber allen sogenannten "künstlichen" Formen der Empfängnisverhütung. Letztlich steht hinter diesem Urteil die antike Vorstellung, der erste Zweck der menschlichen Sexualität bestehe in der Erzeugung und Erziehung von legitimen Nachkommen im Rahmen der Ehe. Dieser Vorrang der Reproduktion sei ein Gesetz der Natur, dem sich der Mensch zu beugen habe.
Hinzu kommt die alte christliche Abwertung der sexuellen Lust. Wem Sexualität im Grunde als etwas unerfreuliches erscheint, der kann sich ihre Rechtfertigung nur in der Fortpflanzung vorstellen. Die sexuellen Freuden eines Liebespaares waren der Tradition verdächtig. Man sollte nicht vergessen, dass die kirchliche Moral von Männern formuliert wurde, die ihr geistliches Leben durch Sexualität bedroht sahen. Beim Heiligen Augustinus kann man das gut studieren.
Und letztlich steht der Vorrang der Natur auch hinter der in dieser Frage rigorosen Morallehre von Johannes Paul II. Das Problem: Da seit Pius XII. die Methode der Zeitwahl "erlaubt" ist, wird die biologische Gesetzmäßigkeit des weiblichen Zyklus zum moralischen Maßstab, hinter dem alle anderen Aspekte zurücktreten müssen. Es leuchtet aber nicht ein, warum ein biologisches Gesetz wichtiger sein soll als die Frage, welche Methode für ein konkretes Paar in seiner Lebenssituation denn angemessen und verantwortbar ist. Der Unterschied zwischen künstlichen und natürlichen Methoden ist menschlich nicht plausibel und moralisch sekundär.
DOMRADIO.DE: Andererseits ist ja die Auswirkung auf den demographischen Wandel ("Pillenknick") in vielen Industrienationen nicht von der Hand zu weisen. Ebenso hat die Pille einige hormonelle Nebenwirkungen, die nicht zu unterschätzen sind. Gibt es hier – fernab der Frage der künstlichen Verhütung – auch einen moralischen Einwand gegen die Einnahme?
Goertz: Den ersten Teil der Frage kann ich nicht nachvollziehen: Soll damit gesagt werden, Verhütung und weibliche Emanzipation seien ein moralisches Problem, weil dann Frauen weniger Kinder zur Welt bringen? Oder gar, weil dann womöglich der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung sinkt? In der Vergangenheit haben solche Gedanken sicher die kirchliche Morallehre bewegt.
Wenn aber Bevölkerungspolitik über Sexualethik siegt, dann ist es um die individuelle Menschenwürde geschehen. Mögliche Nebenwirkungen von Präparaten und Praktiken sind immer zu bedenken. Aber diese zu bestimmen, ist nicht Aufgabe des Moraltheologen, sondern anderer Wissenschaften. Abwägungen sind dann gesellschaftlich und individuell zu treffen. Die Kirche hat da gar keine genuine eigene Kompetenz.
DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche ringt bis heute mit ihrer Lehrmeinung zur künstlichen Verhütung, die auch innerkirchlich nicht unumstritten ist. Welche Lösung des Konfliktes könnten Sie sich als Moraltheologe vorstellen?
Goertz: Die allermeisten Katholikinnen und Katholiken, zumal die jüngeren, die es lebenspraktisch vor allem betrifft, ringen schon sehr lange nicht mehr mit diesem Thema. Sie betrachten die Entscheidung über die Methode der Verhütung als Angelegenheit ihrer eigenen Verantwortung, ihres eigenen gebildeten Gewissens. Insofern ist das Thema eigentlich durch.
Das Lehramt ringt mit der Frage, wie es sich zu einer Norm verhalten soll, die von einer Reihe von Päpsten mit sehr hoher Verbindlichkeit als Ausdruck des wahren katholischen Glaubens dargestellt worden ist. Man ringt eigentlich weniger um die Sache als um die Frage, wie man aus einer Sackgasse herausfindet, in die man sich selbst manövriert hat – ohne dabei umzukehren zu wollen.
Als Moraltheologe würde ich sagen: Wenn man die Sexualethik vom Vorrang der Liebe her formuliert – dazu gibt es Ansätze auf dem Konzil und bei Papst Franziskus –, geht es darum, zu einvernehmlichen und verantwortbaren Entscheidungen zu gelangen, die die Würde und das Wohl des und der anderen berücksichtigen. Mehr als diese Kriterien benötigt es nicht; alles andere ist nicht mehr Angelegenheit der Kirche. Das haben Moraltheologen schon in den sechziger Jahren so formuliert, etwa Franz Böckle in Bonn.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.
Hinweis der Redaktion: Am 12. Oktober erscheint folgender Band: Christof Breitsameter/Stephan Goertz, Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral, Verlag Herder/Freiburg 2020, 20 Euro.