KNA: Über Einschränkungen und Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen ist in der Hochphase der Corona-Krise heftig diskutiert worden. Wie ist der derzeitige Stand in den stationären Einrichtungen in Deutschland?
Prof. Reimer Gronemeyer (Evangelischer Theologe und Soziologe): Ich habe natürlich keinen bundesweiten Überblick, aber aus Briefen und Gesprächen lerne ich, dass viele Beschränkungen und Auflagen noch bestehen, obwohl es in allen Bundesländern Lockerungsbestrebungen gab. So sind die Zahl der Besucher oder die Besuchszeiten teilweise weiter eingeschränkt.
KNA: In manchen Alten- und Pflegeheimen gab es Todesfälle, manchmal sogar mehrere. Waren die strengen Isolierungsmaßnahmen berechtigt?
Gronemeyer: Meldungen über Todesfälle in stationären Einrichtungen haben mancherorts Panik bei Heimleitungen und Pflegekräften ausgelöst. Ich will das nicht verurteilen, denn viele von ihnen waren angesichts des Risikos und der hohen körperlichen und psychischen Belastungen am Ende ihrer Kräfte. Dennoch glaube ich, dass viele der Quarantänemaßnahmen rechtswidrig waren. Zwar können die Länder laut Infektionsschutzgesetz Quarantäne anordnen - aber nur im Fall von Ansteckungsverdacht. Pauschale freiheitsentziehende Maßnahmen und totale Abschottung waren meiner Ansicht nach rechtlich nicht gedeckt.
KNA: Was haben die Maßnahmen in den stationären Einrichtungen angerichtet?
Gronemeyer: Es gab viele Depressionen, Melancholie und Verzweiflung bei den Bewohnern. Deren soziale und menschliche Bedürfnisse wurden den Hygienemaßnahmen strikt untergeordnet. Das hat vermutlich auch zu Todesfällen beigetragen. Manche Demenzkranke werden schon durch Masken im Gesicht ihrer Angehörigen völlig verängstigt. Eine Tochter, die mit ihrer demenzkranken Mutter nur noch durch ein Gitter Kontakt aufnehmen durfte, hat mir geschrieben, dass die Mutter meinte, ihre Tochter sei im Gefängnis. Demenzkranke Bewohner, die einen großen Bewegungsdrang haben, wurden ruhiggestellt. Was in den verschlossenen Einrichtungen alles passiert ist, kann man nur ahnen.
KNA: Befürchtet wird eine zweite Corona-Welle im Herbst. Wie sollten sich stationäre Einrichtungen vorbereiten?
Gronemeyer: Nur ein Prozent aller Pflegeheime war bislang von Corona-Fällen betroffen. Da finde ich es unverhältnismäßig, so viele Menschen zu isolieren. Die Menschen, die in einem Altenheim oder Pflegeheim leben, sind keine Gefangenen. Man kann ihre Rechte daher nicht über Monate so stark einschränken. Corona hat gezeigt, wovor ich schon viele Jahre gewarnt habe: Heime und ihre Leitungen sind auf Krisen wie die Pandemie oder auch den Klimawandel nicht vorbereitet. Jetzt ist die Zeit, sich Strategien zu überlegen.
KNA: In welche Richtung?
Gronemeyer: Es muss mit Blick auf Corona vor allem um Besuchsregelungen und Freiheitsrechte in Zeiten einer Pandemie gehen. Die stationären Einrichtungen müssen Kontaktmöglichkeiten schaffen, sei es in gesonderten Besucherräumen, in Außenbereichen oder durch Abtrennung bestimmter Heimbereiche. Die Menschen haben auch Mitspracherechte. Klar, es besteht ein Risiko, dass man sich ansteckt. Aber wichtiger ist doch, dass Menschen da sind, die Kontakt halten, trösten und Mut zusprechen. Was nützt es, vor allen möglichen Gesundheitsrisiken geschützt zu werden, aber an Einsamkeit zu sterben?
KNA: Sie sind auch evangelischer Pfarrer. Thüringens frühere Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, ebenfalls Pfarrerin, hat die Rolle der Kirchen kritisiert. Wie sehen Sie das?
Gronemeyer: Nochmals: Ich möchte nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Aber auch ich hätte mir klare Worte zu den Rechten der Bewohner auf menschliche Nähe und Trost und gegen diese Überbetonung von Hygiene und Gesundheit gewünscht. Die Kirchen sind im Bereich Pflege ein so großer und wichtiger Arbeitgeber und Anbieter - wieso haben sie das so lange so wortlos mitgemacht? Ihnen müsste doch die Dimension der Nächstenliebe und der seelischen Gesundheit so viel näher liegen.
Das Interview führte Christoph Arens.