"Lieber an Corona sterben als an Einsamkeit." So mancher der rund 900.000 Bewohner von Alten- und Pflegeheimen in Deutschland verbindet mit der Pandemie traumatische Erfahrungen.
Besuchsverbote, Kontakteinschränkungen untereinander, keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr, Einsamkeit: "Ich habe einen Satz im Ohr, den ein Bewohner vor einigen Monaten zu mir gesagt hat: Das ist schlimmer als der Zweite Weltkrieg. Da konnten wir wenigstens zusammensitzen und uns gegenseitig trösten", berichtete kürzlich die Leiterin des Hermann-Josef-Altenheims in Erkelenz im Kreis Heinsberg, Ursula Hönigs.
Schwieriger Balanceakt
Zu begutachten ist ein schwieriger Balanceakt - insbesondere, wenn die Corona-Fälle jetzt im Herbst wieder ansteigen: "Die Härte, mit der die Schutzmaßnahmen in der stationären Altenhilfe umgesetzt wurden, war unvergleichbar stärker, als die Maßnahmen, die den Rest der Bevölkerung betrafen", stellt die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft in einer im August veröffentlichten Leitlinie fest.
Heimbewohner verzeichneten einerseits eine höhere Infektionsrate und eine erhöhte Sterblichkeit infolge einer COVID-19-Erkrankung.
Schließlich lebte etwa jeder dritte Corona-Tote in Pflegeheimen oder anderen Betreuungseinrichtungen. "Gleichzeitig erhöhen Quarantänemaßnahmen, Kontaktvermeidung und der Verzicht auf Tagesroutinen für diese Personengruppe das Risiko der Verletzung von Menschenrechten und der Altersdiskriminierung", heißt es in den Leitlinien. Die Folgen reichten bis zu einer erhöhten Sterblichkeit.
Mittlerweile sind die strengsten Kontaktverbote des Lockdown auch für stationäre Einrichtungen aufgehoben. Schleswig-Holstein etwa erließ im März ein Betretungsverbot, das Mitte Juni aufgeweicht wurde.
Besuchskonzept vorlegen
Seitdem müssen Alten- und Pflegeheime ein Besuchskonzept vorlegen und den Bewohnern Kontakt zu Angehörigen ermöglichen. In Mecklenburg-Vorpommern sind Besuche unter bestimmten Voraussetzungen seit Juli erlaubt. Pflegeeinrichtungen müssen mindestens vier Stunden täglich Öffnungszeiten für Besuche einrichten. Hessen hebt ab Donnerstag die allgemeinen Besuchseinschränkungen in Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen auf.
"Es wird keine verbindlichen Vorgaben des Landes zur Dauer und Zahl der Besuche mehr geben", kündigte Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) an. Bislang durften beispielsweise Bewohner von Pflegeheimen nur drei Mal pro Woche je einen Besucher empfangen. Künftig sollen die einzelnen Einrichtungen eigene Regeln und Hygienekonzepte umsetzen.
Was sich zunächst positiv anhört, könnte sich schnell ins Gegenteil verkehren. Ralf Geisel vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste spricht von einem "schwierigen Balanceakt" der Einrichtungen.
Sie müssten zwischen den Leben schützenden Hygienevorgaben und dem verständlichen Wunsch von Bewohnern und Angehörigen nach mehr Nähe und Kontakt abwägen.
Länder in der Pflicht?
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz jedenfalls befürchtet jetzt eher strengere Maßnahmen. "Denn immer wieder schießen Träger aus Angst vor Infektionsausbrüchen über das Ziel hinaus", verweist Vorstand Eugen Brysch auf ein Sicherheitsdenken und das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung in vielen Einrichtungen.
Auch der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, beklagt, dass einzelne Einrichtungen immer noch auf Isolation und damit Besuchsverbote setzten. "Strikte Abschottung kann zum derzeitigen Stand der Pandemie nicht mehr die regelhafte Lösung sein", sagte er dem "Spiegel". Die Einrichtungen müssten Konzepte finden, wie Infektionen früh erkannt und begrenzt werden könnten.
Westerfellhaus sieht dabei wie Brysch auch die Länder in der Pflicht. Der Bund habe es jetzt möglich gemacht, Heimbewohner flächendeckend zu testen. Allerdings brauchten die Heime "Handlungssicherheit" durch klare Vorgaben von Landesregierungen bis zu Gesundheitsämtern.
"Aktuell wird offenbar noch zu oft die möglichst weitgehende Beschränkung von Besuchen und Bewegungsfreiheit als der einzig juristisch sichere Weg empfunden - auch dann, wenn das menschliches Leid und gesundheitliche Schäden zur Folge hat", sagte Westerfellhaus. "Das darf so nicht bleiben."