DOMRADIO.DE: Machen Sie in diesen Herbstferien Urlaub?
Volker Keller (Ev. Pfarrer und Bordseelsorger aus Bremen): Ich hatte zwei Urlaube geplant. Zum einen war das ein Bildungsurlaub für das Evangelische Bildungswerk im Kloster Nütschau in Schleswig-Holstein. Dort sind wir Bremer jetzt unerwünscht, wir dürfen nicht reisen. Jetzt geht es um die Frage: Wer zahlt die 4.000 Euro Gebühren, die da entstehen, wenn der Kurs nicht zustande kommt? Ich selber hatte einen Urlaub in Mecklenburg-Vorpommern gebucht. Ich habe festgestellt: Sonst liebt man uns da, aber im Moment sind wir Aussätzige.
DOMRADIO.DE: Sie haben in diesem Jahr schon Urlaubserfahrungen gemacht, zum Beispiel zu Beginn der Corona-Pandemie auf Madeira. Waren Sie da zum falschen Zeitpunkt am eigentlich für Sie richtigen Ort?
Keller: Ich bin auf allen fünf Kontinenten unterwegs, aber Madeira ist für mich der schönste Ort. Und eigentlich sind die Madeirer sehr entspannt und freuen sich über ihre Touristen. Die Stimmung ist von einem Tag auf den andern so dermaßen umgeschlagen, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können. Eine Niederländerin schlappte das Virus ein, dann kam eine Belgierin, dann kam ein Deutscher.
Die Madeirer hatten Angst vor uns. Ich stieg in einen Bus und eine Frau guckte mich an, als ob der leibhaftige Tod vor ihr stünde. Überall hieß es: Stay at home. Ein Taxifahrer wollte mich nicht mehr mitnehmen, und ich merkte: Hier ist ein Stimmungsumschwung, hier sind wir mittlerweile Aussätzige, hier reist man am besten ab.
DOMRADIO.DE: Sind Sie dann auch abgereist?
Keller Ja, das mussten wir. Vonseiten der Regierung wurde Druck gemacht, dass die Touristen so schnell wie möglich raus sollten. Es wurde gesagt: Wer nicht mit dem letzten Flug, der noch geht, verschwindet, der wird hier in Quarantäne gesetzt. Das hätte bedeutet: 14 Tage in einem kleinen Raum und wenn der Virus ausbricht, weiß man nicht, was geschieht.
DOMRADIO.DE: Sie arbeiten regelmäßig als Seelsorger auf Kreuzfahrtschiffen. Auch in der Kreuzfahrtbranche hat die Corona-Krise extrem dazwischen geschlagen. Waren Sie in diesem Jahr überhaupt schon bei einer Seereise als Seelsorger mit dabei?
Keller: Nein, das ist völlig undenkbar. Ein Schiff, sonst ein sehr schöner und für mich paradiesischer Ort, ist jetzt ein hochgefährlicher Ort. Denn auf engstem Raum sind viele Menschen zusammen, selbst wenn die Zahl reduziert wird. Man stelle sich vor, da erkrankt jemand. Dann droht einem, dass man möglicherweise 14 Tage lang in eine kleine Kabine gesperrt wird. Das wäre die Hölle, das würde ich überhaupt nicht riskieren. Ohne Impfung würde da für mich nichts laufen.
Man sieht ja auch an den vernünftigen Reiseveranstaltern wie Phoenix-Reisen oder Hapag-Lloyd-Kreuzfahrten, dass deren Schiffe festliegen. Da muss man nur durch den Hamburger Hafen fahren, da sieht man im Moment die besten Schiffe der Welt liegen: MS Europa, MS Europa 2, das Traumschiff vom ZDF, die Amadea. Da läuft nichts. Man rechnet erst vielleicht Ende des Jahres, Anfang nächsten Jahres wieder mit einem leichten Beginn, wenn sicherere Verhältnisse bestehen.
DOMRADIO.DE: Wie lange sind Sie normalerweise auf See im Dienst und wo sind Sie unterwegs?
Keller: Ich bin mit Hapag-Lloyd-Schiffen, der MS Europa und MS Europa 2 und mit der Amadea, dem Traumschiff, auf allen Kontinenten unterwegs. Natürlich hat man seinen Lieblingskontinent. Das ist für mich wegen der religiösen Vielfalt der asiatische Kontinent. Ich versuche immer, da hinzukommen. Die Reisen sind unterschiedlich lang, mal sind es fünf Wochen, wenn man in Südamerika einsteigt und über den Pazifik nach Australien fährt. Wenn man hier in Europa auf der Ostsee unterwegs ist, dann können es zwei Wochen sein. In Asien können es drei sein, wenn man über den Indischen Ozean fährt. Das macht man etwa einmal im Jahr oder einmal in zwei Jahren, aber wenn man das ein paar Jahrzehnte lang macht, dann ist man mehrfach auf den Kontinenten gewesen.
DOMRADIO.DE: Sie sind auch Pfarrer in Bremen-Vegesack. Wie gehen die Menschen in Ihrer Gemeinde mit der Pandemie um?
Keller: Die Gemeindemitglieder gehen genauso damit um wie die Gesamtbevölkerung. Es gibt eine große Mehrheit, die sehr vernünftig ist und für rationale Argumente, die vonseiten der Wissenschaft und des Staates kommen, zugänglich sind. Es gibt eine kleine Minderheit, die sich da völlig anders verhält. Wir haben auch Corona-Leugner, fanatisiert möchte ich sagen, ideologisch. Was sie sagen, das hat einen absolutistischen Charakter. Für sie gibt es nur diese Wahrheit, dass Corona Fake ist und es Corona gar nicht gibt. Das ist für mich eine Haltung der Unvernunft, die in den Gemeinden nicht tolerierbar ist. Da muss eine klare Regelung her, wie alle sich zu verhalten haben. Und da gibt es keine persönlichen Vorlieben, das machen wir schon deutlich. Allerdings wundere ich mich, dass es so eine Spaltung gibt.
Ich frage mich, wo das herkommt. Für mich ist das ein gekränkter Hyper-Individualismus. Wir sind in unserer Gesellschaft so weit, dass es Menschen gibt, die sagen: "Ich lasse mir nichts sagen, ich mache, was ich will. Und da ich im Internet surfe, weiß ich sowieso alles besser als die anderen." Das ist eine problematische Haltung, geradezu eine Problemanzeige. Wie weit darf Individualismus in einer Gesellschaft gehen? Wir sagen in unserer Gemeinde klar: Hier hat Individualismus in diesem Augenblick keinen Platz. Hier gibt es klare Regeln, an die sich jeder zu halten, sonst kommen wir mit diesem Virus überhaupt nicht klar.
DOMRADIO.DE: Kommen Sie an diese Menschen irgendwie dran?
Keller: Nein, ich glaube nicht. Man kann diskutieren, aber aus der Diskussion wird dann oft ein Streitgespräch, weil die Diskussison ideologisch ist. Es geht um absolute Wahrheiten. Und da kommt man nicht mehr aneinander ran. Und da muss man auch sagen: "Wir lassen das jetzt so stehen. Du kannst denken, was du willst, aber du musst dich so verhalten, wie es die Gemeindeleitung vorgibt." Ich verstehe auch dieses Misstrauen in die Wissenschaft und in den Staat nicht.
Wir brauchen gar nicht in die USA zu schauen. Ich war mit dem Traumschiff dort an der Küste und habe mit vielen Leuten geredet. Die waren alle aufgeschlossen, aber sie haben mir erzählt, was da los ist: diese Wissenschaftsfeindlichkeit, diese Staatsfeindlichkeit. Das haben wir hier in Deutschland unter den Corona-Leugnern genauso. Der Individualismus ist so gekränkt, dass er in Hass umschlägt. Ich hätte nicht gedacht, dass das in solch einer unvernünftigen und aggressiven Weise geschieht wie etwa bei den Demonstrationen in Berlin. Da ist für mich eine Grenze überschritten, wo der Staat dieses Verhalten nicht mehr tolerieren kann.
Das Interview führte Carsten Döpp.