Raum geben für die Trauer in der Pandemie

Es braucht mehr "Seelen-Management"

Verlust, Angst und Trauer: Die Corona-Pandemie trifft jeden Menschen anders. Bei einem Gottesdienst in St. Aposteln in Köln und anschließendem Gespräch soll an Allerseelen den Gedanken Raum gegeben und der Toten gedacht werden.

Brennende Kerze / © fon.tepsoda (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Welchen Schwerpunkt hat dieser Gottesdienst?

Dr. Dominik Meiering (Domkapitular und leitender Pfarrer in der Kölner Innenstadt): Allerseelen ist natürlich traditionellerweise der Tag, an dem man der Verstorbenen gedenkt und ein Requiem feiert. In diesem Jahr trauern nicht nur diejenigen, die im vergangenen Jahr irgendjemanden verloren haben, sondern es gibt so unendlich viele andere, die angesichts der Corona-Pandemie Grund haben zu trauern.

Deshalb haben wir gesagt: Wir müssen das Ganze öffnen und allen denjenigen, die was zu betrauern haben, einen Raum geben. Das gilt nicht nur für einzelne Menschen, die wegen Corona jemanden verloren haben, sondern auch für diejenigen, die krank gewesen sind, die Freiheiten und Sicherheitsgefühl verloren haben und das Gefühl haben, dass ihnen Zeit geraubt wurde, die betrauert werden muss.

Studenten mussten beispielsweise Pläne aufgeben, weil sie plötzlich keine Auslandsreise machen konnten oder woanders das Studium beginnen konnten. Große Feiern konnten nicht mehr stattfinden. Mir fallen so viele Gelegenheiten ein, über die man trauern kann. Wir müssen dieser Trauer Raum geben.

DOMRADIO.DE: Also bezieht sich Trauer nicht nur auf Tod?

Meiering: Richtig. Trauern ist ja etwas, was den Menschen existenziell packt und erfasst. Das spüren wir in dieser Zeit alle. Wenn man einen Menschen verloren hat, wenn ein Mensch gestorben ist, dann ist das vor allen Dingen in den ersten Tagen und Wochen auch eine existentielle Erfahrung.

Das hat etwas mit dem zu tun, was wir jetzt gerade alle durchmachen. Wir machen die Erfahrung, dass wir die Dinge nicht in der Hand haben. Wir können sie nicht einfach bestimmen, wir können sie nicht ändern. Wir müssen bestimmte Dinge hinnehmen. Diese Grunderfahrung, dass wir unser Leben, unser Dasein, unsere Existenz nicht vollständig in der Hand haben, hat etwas mit dem Trauern um Verstorbene zu tun. Ich glaube, das ist die Chance, das alles miteinander zu verbinden und ins Gespräch zu bringen.

DOMRADIO.DE: Inwieweit kann Trauer auch helfen, uns in unserer gegenwärtigen Situation anders oder besser zurechtzufinden?

Meiering: Trauer braucht Verarbeitung. Das weiß jeder, der schon mal einen lieben Menschen verloren hat. Wenn ich aber darüber rede und dieser Trauer Raum gebe, dann können daraus wieder Zuversicht und neue Visionen erwachsen, die zum Neuanfang ermutigen, das Leben neu anzupacken. Darum soll es eigentlich gehen.

DOMRADIO.DE: Reden wir mal über den Gottesdienst und die Basilika. Sie wird besonders geschmückt und es wird auch eine Glocke läuten.

Meiering: Ja, da freuen sich alle jedes Jahr drauf. Denn wir holen dann die guten, alten, kostbaren Reliquien, die mit diesem Kirchort verbunden sind, aus der Schatzkammer. Die ganze Kirche glänzt in einem Kerzenmeer, strahlt und leuchtet. Natürlich wird dann auch die große Weltjugendtags-Glocke läuten, wenn wir die Kerzen für all die Augenblicke anzünden, in denen wir im vergangenen Jahr getrauert haben. Da sind die Menschen auch eingeladen mitzumachen. Wir haben das ganz schön geplant, sodass das unter Corona-Bedingungen auch gut klappen kann.

DOMRADIO.DE: "Gefühle brauchen Raum. Trauer braucht Verarbeitung, [...] und die Traurigen brauchen Trost": So steht es in der Pressemitteilung. Nach dem Gottesdienst gibt es die Möglichkeit zum Gespräch. Inwieweit können Sie an diesem Abend im Gespräch Trost spenden?

Meiering: Zunächst einmal muss man die Selbstheilungskräfte aktivieren. Ich glaube, die hat jeder Mensch, aber das passiert nicht von selbst, sondern dafür muss man darüber reden. Deshalb machen wir das, wir reden einfach drüber. Wir schaffen Raum, dass jeder noch einmal reflektieren kann: Wo stehe ich denn gerade? Wie geht es mir? Wie erlebe ich mich?

Es gibt ganz viele Leute, die antriebslos und lustlos sind. Manch einer hat sich vielleicht sogar sozial zurückgezogen, weil alles irgendwie verändert ist. Familienleben ist nicht normal, in der Arbeitswelt ist mit Homeoffice oder Homeschooling alles anders. Karneval oder der Sport findet auch nur unter veränderten Bedingungen statt. Das heißt, es gibt kein normales Leben.

Die Tatsache, dass das natürlich auf meine Stimmung, auf mein Gemüt, auf meine innere Verfassung drückt, ist doch völlig offensichtlich und völlig klar. Wir haben nie so viele Depressionen gehabt wie in dieser Zeit. Dann ist es wichtig, dass man dem Raum gibt, weil ich, nur wenn ich dem Raum gebe, auch daran arbeiten kann.

DOMRADIO.DE: Das heißt, wir verarbeiten sozusagen die Trauer um den Verlust des alten Lebens, des alltäglichen Lebens und dieser Routinen, die wir hatten?

Meiering: Absolut. Eine der wichtigsten Regeln ist es auch, neue Routinen zu schaffen, damit man ein Gerüst hat, an dem man sich orientieren kann. Der Heilige Thomas von Aquin hat immer gesagt: "Halte Ordnung, und sie hält dich." Dazu wird es bestimmt ein paar Tipps geben. Aber es wird natürlich auch um die Gottesfrage gehen und um die Frage: Was hat der liebe Gott mir an Glaube, Hoffnung und Liebe ins Herz eingepflanzt? Wie kann ich die in mir aktivieren, damit ich zuversichtlich und vielleicht sogar motivatorisch gegenüber anderen neue Schritte wagen kann?

DOMRADIO.DE: Das wird ein langer Abend, oder?

Meiering: Ja, es ist auf maximal eineinhalb Stunden angesetzt. Wir wollen auch die Möglichkeit geben, dass diejenigen, die kommen, ein bisschen mitdiskutieren und von ihren Erfahrungen erzählen können. Denn wir wissen natürlich, dass da der eine oder andere Selbstständige, der nicht mehr zurechtkommt, dabei sein kann. Ebenso Künstler, Studierende, Eltern, die das mit ihren Familien erlebt haben und auch mal ihre Perspektive loswerden und davon erzählen wollen.

Ich glaube, dass es solche Räume viel mehr braucht. Nicht nur dieses Krisenmanagement, das auf einer politischen Ebene und Verwaltungsebene stattfindet, sondern eben auch dieses "Seelen-Management", wenn ich das mal so nennen darf, das ganz viel mit Seelsorge zu tun hat.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Domkapitular Dominik Meiering (KiK)
Domkapitular Dominik Meiering / ( KiK )
Quelle:
DR
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