KNA: Herr Mayers, seit zehn Jahren sind Sie im Saarland Sprecher der katholischen Klinikseelsorger im Bistum Trier. Sie sehen die Lage für Pflegekräfte in deutschen Kliniken sehr kritisch. Warum?
Hermann-Josef Mayers (Saarbrücker Klinikseelsorger): Die Corona-Pandemie zeigt, wie groß die Defizite im Kliniksystem sind. Vor allem in der Pflege fehlt Personal. Dort wurden in den vergangenen Jahren massiv Stellen gekürzt - soweit, dass man inzwischen von einer fahrlässigen und völlig unzureichenden Pflegesituation in Deutschland sprechen muss. Mit den Folgen haben wir jetzt zu kämpfen. Manche Kliniken müssen derzeit ganze Stationen schließen, weil Personal fehlt. Denn zunehmend infizieren sich auch Pflegekräfte mit Corona. Und dazu kommt ein in der kalten Jahreszeit ohnehin höherer Krankenstand.
KNA: An welchem Punkt kommen Sie ins Spiel?
Mayers: Ich bin seit 18 Jahren als Klinikseelsorger tätig, da bekommt man viel mit. Das Seelsorgeangebot richtet sich vor allem an Patienten und deren Angehörige. Aber weil die Situation in der Pflege so angespannt ist, wenden sich zunehmend auch Mitarbeiter an mich und klagen ihr Leid.
KNA: Was wird da an Sie herangetragen?
Mayers: Es fällt zu viel Arbeit für zu wenige Pflegekräfte an. Pflegende berichten, dass sie allein auf einer Station eingesetzt sind und teilweise nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Konkret heißt das: Pflegetätigkeiten bleiben liegen, Infusionen können beispielsweise nicht gemacht werden. Die Mitarbeiter haben die Möglichkeit, ihre Not in Form sogenannter Überlastungsanzeigen an den Arbeitgeber zu melden. Klinikträger wiegeln solche Meldungen aber oft ab und stellen es so dar, als sei die Einzelperson unfähig und nicht in der Lage, ihre Arbeit kompetent auszuführen. Das ist bundesweit bekannt - und wird trotzdem nicht als Skandal benannt. Dabei sind die Strukturen das Problem.
Dieser Umgang mit dem Personal führt zu noch mehr Druck in der Pflege. Ohnehin trauen sich nur ganz wenige, ihre Not öffentlich zu benennen. Häufiger ziehen sich Mitarbeiter zurück, arbeiten in Teilzeit oder suchen sich einen anderen Job.
KNA: Sehen Sie die Träger in der Verantwortung?
Mayers: Das ganze System hat Schieflage, was auch für die Träger schwierig ist. Kliniken wurden den Gesetzen des Marktes unterworfen, sie müssen schwarze Zahlen schreiben. Die Träger sind in einer Zwickmühle, denn die Ausgaben steigen enorm, die Einnahmen aber nicht. Oft bleibt ihnen nur, am Personal zu sparen. Das trifft meist die Pflege und Bereiche wie Reinigungskräfte, Rezeption oder Handwerker. Man kann ein Krankenhaus aber nicht führen wie eine Fabrik.
KNA: Was müsste sich ändern?
Mayers: In dem System, wie es aktuell ist, lässt sich viel Geld verdienen. Da sind einflussreiche Interessengruppen aktiv, die ihre Ansprüche nicht zurückschrauben wollen. Die Politik müsste da gegensteuern - formuliert aber hauptsächlich Absichtsbekundungen. Große Veränderungen für die Pflege wurden bisher nicht durchgesetzt. Ich bin daher nicht optimistisch, dass die Pandemie an den Strukturen viel ändert - es sei denn, die Pflegenden selbst organisieren sich und erheben ihre Stimme.
KNA: Was heißt das für die christlichen Träger?
Mayers: Von den kirchlichen Krankenhausträgern erwarte ich, dass sie endlich aufstehen, ihre Verantwortung wahrnehmen und gegenüber den politischen Akteuren ihren Einfluss geltend machen, um die unhaltbaren Zustände im Krankenhauswesen zu korrigieren. Denn mit einem christlichen, am Menschen orientierten Ansatz geht das aktuelle System nicht zusammen. In dieser Situation der extremen Ökonomisierung des Krankenhauswesens kommt es zu Arbeitsverhältnissen, die ich nicht gutheißen kann.
KNA: Zur Klinikseelsorge - die war im ersten Lockdown stark eingeschränkt. Wie sieht das aktuell aus?
Mayers: Der Wert von Klinikseelsorge wurde im ersten Lockdown zu wenig beachtet. Das ist jetzt viel besser. Gespräche waren damals meist nur über Telefon möglich. Manche Patienten waren über Wochen und Monate auf sich allein gestellt. Dieses Vorgehen zeigt auch, welchen Stellenwert Klinikseelsorge im Alltag hat: Wenn Menschen im Sterben liegen, ist man froh, dass es das Angebot gibt. Ansonsten wird unterschätzt, wie wichtig es ist, für die Not der Patienten im Gespräch da zu sein. In dem Punkt habe ich im zweiten Lockdown bisher gute Erfahrungen gemacht, wir können weiter arbeiten.
Das Interview führte Anna Fries.