Die Katholische Integrierte Gemeinde (KIG) galt einmal als hoffnungsvoller kirchlicher Neuaufbruch. Längst ist eine traurige Farce daraus geworden. Am Freitag folgte der Schlussakt mit der Bekanntgabe ihrer kirchenrechtlichen Auflösung durch den Münchner Kardinal Reinhard Marx. Da war sie ihm aber längst zuvorgekommen.
Denn der unter diesem Namen bisher existierende Verein hat gar keine Mitglieder mehr, in seiner weltlichen Rechtsform wurde er schon im Mai umbenannt.
Seit Februar 2019 sollte eine von Marx in Auftrag gegebene Untersuchung, eine sogenannte Visitation, Licht ins eigenwillige Gebaren der Gruppe bringen. Ausgangspunkt waren Klagen ehemaliger Mitglieder über geistlichen Missbrauch: In der Katholischen Integrierten Gemeinde sei ein System aus finanzieller und psychischer Abhängigkeit errichtet worden. Die Verantwortlichen der Gemeinde wiesen diese Vorwürfe zunächst als "böswillige Verleumdung" zurück, entzogen sich dann aber der Visitation, wie das Erzbistum nun seinerseits beklagt.
Züge einer Sekte
Nimmt man die ebenfalls am Freitag auf der Internetseite der Erzdiözese veröffentlichten Erkenntnisse der Visitatoren, mag die jahrelange Geduld verwundern, mit der das Ordinariat als zuständige kirchliche Aufsichtsbehörde die Gruppe gewähren ließ. Die aufgelisteten "strukturellen Defizite" entsprechen den Zügen einer Sekte: überzogene Gehorsamsforderungen, unkontrollierte Machtausübung, kompromisslose Ausgrenzung von Kritikern, überhöhtes Selbstverständnis.
Die KIG wähnte sich demnach als einzig wahre Verwirklichung des urchristlichen Gemeindelebens. Vermittelt durch ihre Gründerin Traudl Wallbrecher (1923-2016) war in der Gemeindeversammlung die unmittelbare Stimme des Heiligen Geistes zu vernehmen. Widerspruch galt als die schlimmste Sünde, als Abfall vom Glauben.
Wer dazugehören wollte, von dem war "Ganzhingabe" verlangt. Das hieß konkret: Die Gemeinde entschied über seine Partnerwahl, den Umgang mit dem Kinderwunsch, seinen Wohnort und den Beruf - kurzum über alles, was für einen Menschen existenziell von Bedeutung ist. Auch darüber, welcher Arzt konsultiert werden durfte. Wobei als Vollmitglieder nur wenige Auserwählte agierten. Wie deren Entscheidung ausfiel, war für den Einzelnen kaum vorhersehbar.
Verlangt wurde ferner der Einsatz des gesamten Vermögens einschließlich der Bereitschaft, sich zur Finanzierung von Gemeindeprojekten zu verschulden.
Ausbildung einer "Parallelgesellschaft"
Praktischerweise verfügte die Integrierte Gemeinde nach den Ausführungen der Visitatoren über eine eigene Bank. "Diese vergab für diese Zwecke Kredite an die Mitglieder, durch die jedes Risiko für Investitionen von der KIG oder den jeweiligen Rechtsträgern auf die einzelnen Mitglieder verlagert wurde." Nach einem Austritt oder Ausschluss blieben diese auf den Verbindlichkeiten sitzen.
Am Ende steht das Fazit der Visitatoren, "dass die KIG ein sehr komplexes Phänomen in der Kirche ist", das weiterer Aufklärung bedarf. Auf der einen Seite stehen "faszinierende Gedanken und Lebensentwürfe", das Bemühen um ein "überzeugendes Glaubenszeugnis auch und gerade im alltäglichen Leben". Auf der anderen Seite: Unfähigkeit zur Selbstreflexion auf der Leitungsebene und kontinuierliche Missachtung der Freiheit der Mitglieder. Oder um es mit den Worten eines Münchner Prälaten zu sagen: "Da hat sich in der Kirche etwas herausgebildet, was wir sonst immer nur anderen vorwerfen: eine Parallelgesellschaft."
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hatte die KIG in seiner Zeit als Münchner Erzbischof 1978 kirchlich anerkannt und galt seither als ihr wichtigster Protektor. Auch er scheint dieser Faszination lange erlegen zu sein. Erst vor wenigen Wochen ging er öffentlich auf Distanz zu der Gruppe, erklärte, er sei wohl über manches in ihrem Innenleben nicht informiert oder gar getäuscht worden. Was er nicht dementierte: Dass auch ihm die Vorwürfe aus den Reihen Ehemaliger offenbar lange bekannt waren.