"Ich lebe heute intensiver und bin jetzt ganz frei in meinem Leben." In der Tat: Rüdiger Thomas wirkt gelassen, geradezu heiter und optimistisch. Vielleicht, weil er das Schlimmste bereits hinter sich hat: die konkrete Angst vor dem eigenen Sterben. Doch diese Phase hat er für sich längst abgehakt. "Mittlerweile mache ich alles mit einer besonderen Energie", blickt er positiv in die Zukunft. Dabei hat der heute 80-Jährige eine schwere Zeit durchlebt. "Damals hatte ich keine Zukunftsvorstellungen mehr, habe nur noch an mein Ende gedacht."
Damals – das war vor gut fünfeinhalb Jahren, als der ehemalige Verlagsleiter in einem alarmierend schlechten Allgemeinzustand ins Bensberger Hospiz eingeliefert wurde. Sein 2011 durch einen Zufallsbefund diagnostizierter seltener Knochenmarkskrebs – nur vier von 100.000 erkranken jährlich an einem Plasmozytom – war kurz zuvor in einer anderen Klinik mit mehreren Chemotherapie-Zyklen behandelt worden. Doch ein Sturz zuhause führt im weiteren Verlauf zu Lähmungserscheinungen bis hin zu einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit. Der Patient wird bettlägerig, bekommt Infusionen, kann weder essen noch trinken. Aller Lebensmut schwindet. Der letzte Ausweg: Hospiz. "Nun begann die Phase, in der sich die Krankheit auf mich nach einer Zeit der Vorwarnung zum ersten Mal bedrohlich auswirkte, ich mich mit der Angst vor quälenden Schmerzen auseinandersetzen musste und selbstbestimmtes Sterben für mich zur Option wurde", reflektiert Thomas rückblickend.
Die Begriff Palliativmedizin sorgt für Vorbehalte
Im Hospiz trifft er auf den Onkologen und Palliativmediziner Dr. Dirk Hennesser. Sein Glück. Denn dieser sieht immer noch eine Chance, obwohl sein Patient offiziell als "austherapiert" gilt. "Hospiz muss keine Einbahnstraße sein; da ist oft noch ein Weg, und man kann immer noch Mut machen, etwas auszuprobieren und sich nicht aufzugeben", argumentiert der Mediziner, der Thomas insgesamt acht Wochen lang palliativmedizinisch betreut und bereits zur Halbzeit Entwarnung gibt. Mit einer weniger aggressiven Medikation, einer "mutigen Haltung des Abwartens", wie der Tumorspezialist das selbst nennt, und natürlich auch viel Physiotherapie kehren schon vier Wochen nach der Einweisung des Patienten die alten Lebensgeister zurück. "Ich bezweifle sehr, dass eine solche Entwicklung auf einer normalen Station möglich gewesen wäre", kommentiert Thomas heute seine allmählichen Schritte zurück ins Leben.
Allein schon die Begriffe Palliativmedizin und Hospiz sorgten für massive Vorbehalte und hörten sich für viele nach Endstation an, so dass oft eine weitere Therapie gar nicht erst in Erwägung gezogen werde, weiß Dr. Hennesser aus Erfahrung. "Dabei haben wir in der Tumorbehandlung mittlerweile über die klassische Chemotherapie hinaus noch weitere und sogar schonendere Therapien, die durchaus in einem solchen Krankheitsstadium noch angewendet werden können, auch wenn die Prognosen auf den ersten Blick nicht gut sind."
Überwiegend positive Erinnerungen an Zeit im Hospiz
In diesem Jahr hat Rüdiger Thomas mit seinen Kindern und Enkelkindern seinen runden Geburtstag gefeiert. Das schien vor ein paar Jahren undenkbar. Heute ist er überzeugt: "Palliativmedizin ist die richtige Alternative zur Selbsttötung." Es sei sogar überflüssig und kontraproduktiv, sich mit Sterbehilfe auseinanderzusetzen. Sie sei geradezu irrelevant, wenn man sich auf einen Prozess vertrauensvoller Gesprächen über das Thema "Sterben" und allen zur Verfügung stehenden schmerztherapeutischen Maßnahmen einlasse.
Weniger ratsam hingegen sei, sich immer wieder mit Krankheitsverläufen zu beschäftigen und sich das oft auch irreführende Wissen darüber aus dem Internet zu holen. "Es klingt paradox. Aber meine Aufnahme ins Hospiz", zeigt er sich überzeugt, "hat den Krankheitsverlauf zweifelsohne positiv beeinflusst." Fünf geschenkte Jahre seitdem – das sei eine ganze Menge Zeit für jemanden, der sich schon aufgegeben und die eigene Beerdigung geplant habe. "Man muss sich die Erwartungen ans Leben erhalten und neue Zuversicht aufbauen", resümiert Thomas. "Was das angeht, fühle ich mich jedenfalls geheilt."
Sterbebegleitung steht nicht im Zentrum
Dieses subjektive Gefühl trägt wesentlich zu seinem stabilen Zustand bei. Denn natürlich ist sich der Krebspatient darüber im Klaren, dass der vorübergehende Stillstand seiner Beschwerden auch trügerisch sein und ein nächster Schub wieder ernst werden kann. "Aber ich habe in den letzten fünf Jahren eine Menge dazu gelernt", sagt er und meint damit nicht die Erforschung aller medizinischen Details zu seinem sehr speziellen Krankheitsbild. "Ich habe meine Aktionsfelder erheblich eingeschränkt, lebe dafür nun intensiver und erledige alles mit großer Konzentration."
Psychisch befinde er sich daher durchaus in einer "angenehmen und wertvollen Lebensphase", in der er seine Erfahrungen am liebsten aufschreiben würde. Was er selbst zu dieser optimistischen Haltung beiträgt, sind Bewegung, eine vitaminreiche Ernährung, viel Flüssigkeitszufuhr und die sozialen Kontakte zur Familie – wenn auch wegen Corona zurzeit fast ausschließlich fernmündlich. "Wenn ich an meine Zeit im Hospiz zurückdenke, habe ich überwiegend positive Erinnerungen", stellt Rüdiger Thomas fest.
Palliativmediziner Hennesser: Mehr Aufklärungsarbeit betreiben
"In der Palliativmedizin geht es immer auch darum, noch Perspektiven aufzuzeigen und zu überlegen, was wir noch tun können, um jedem Patienten bis zum Schluss möglichst viel Lebensqualität zu erhalten", erklärt Hennesser. Nicht immer stünden Symptomkontrolle oder Sterbebegleitung im Zentrum. "Der Wille des Patienten zählt. Und den arbeiten wir, soweit noch möglich, oft in Gesprächen gemeinsam heraus. Denn als Onkologen sehen wir am besten, was noch für den Patienten geht, auch wenn körperlich bereits alles abgeklärt ist."
Hinter dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod stünde ja meistens die Angst vor übermäßigem Leiden und unerträglichen Schmerzen. Doch soweit komme es in über 80 Prozent aller Fälle gar nicht. "Der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe basiert auf der Annahme, dass Sterben im Endstadium einer unheilbar schweren Krankheit Höllenqualen bedeuten, und die Betroffenen daher Panik vor einem Todeskampf entwickeln." Dabei sei es – unterstützt von Schmerzmitteln – in den meisten Fällen ein sanftes Einschlafen. "Das regelt der Körper von ganz alleine", betont der Palliativmediziner.
Hier müsse allerdings grundsätzlich sehr viel mehr Aufklärungsarbeit betrieben werden. "Ein Patient sollte über alle Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, informiert sein." Palliativmedizin müsste in der medizinischen Ausbildung ein zentraler Bereich sein, fordert der niedergelassene Arzt. "Denn begleitend zu einer Tumorbehandlung kann sie mehr Angebote machen, als viele wissen." Die Verknüpfung von beidem könne dabei helfen, lebenswertes Leben fortzusetzen und sich nicht damit zu beschäftigen, vorzeitig das eigene Leben zu beenden. Jeder vierte der jährlich etwa 200 Patienten könne eine Palliativstation auch wieder verlassen.
Von Infusion zu Infusion schauen, wie es weitergehen kann
Oft sei der Hospizaufenthalt für eine vorübergehende Stabilisierung mit unterstützenden Maßnahmen wie Psychoonkologie oder Musik- und Kunsttherapie da. Auch müsse es zwangsläufig nicht immer gleich um die Extreme Schwarz oder Weiß, komplette Autonomie oder vorzeitige Selbsttötung gehen. "Ein wesentlicher Teil unseres Engagements besteht darin, gegen Vorurteile anzugehen, wenn sich unsere Patienten oder ihre Angehörigen von falschen Vorstellungen über Hospizarbeit leiten lassen", erläutert Hennesser. "Wenn dann das Gespräch auf den assistierten Suizid kommt, gehen bei uns alle Alarmglocken an." Es gebe keine Tumorbehandlung, die gradlinig verlaufe. "Man macht keine Schublade auf und weiß, was als nächstes passiert. Vielmehr schaut man von Infusion zu Infusion und hinterfragt immer wieder neu, wie es weitergehen kann. Und dafür, dass sich dieses differenzierte Vorgehen lohnt, ist ein Patient wie Herr Thomas der allerbeste Beweis."