Ein imposantes Instrument, das allein optisch beeindruckt, mit ausgefeilter Mechanik, Hebeln für verschiedene Register und zahlreichen Pfeifen, von denen die kleinsten einige Zentimeter, die größten bis zu elf Meter lang sind. Im kommenden Jahr ist die Orgel das Instrument des Jahres. Aber was macht sie eigentlich so besonders? Und wodurch zieht das Instrument Menschen in seinen Bann - auch solche, die sonst kaum Berührungspunkte zu klassischer Musik oder Kirche haben?
Etwa 50.000 Orgeln stehen in Deutschland; die meisten in Kirchen, Konzert- oder Wohnhäusern. Einfache Formen des Instruments finden sich aber auch auf Jahrmärkten - als Ausstattung von Karussellen - oder als Drehorgeln in Fußgängerzonen, sagt der Orgelsachverständige Michael Kaufmann. "Das Prinzip ist in allen Varianten das gleiche." Vereinfacht gesagt: Ein Spieler treibt eine Mechanik an, produziert mit Hilfe eines Balgs Luft, die komprimiert durch die Pfeifen fließt, so dass Töne erzeugt werden.
Das Instrument ist so raumgreifend, dass es besichtigt werden kann. Der Mainzer Domorganist Daniel Beckmann führt Schulklassen und Besuchergruppen durch die Orgel. "Zu sehen, wie im Verborgenen unzählige Trakturelemente zusammenspielen, das fasziniert viele Besucher. Welches andere Instrument kann man schon begehen?", fragt der Organist.
"König aller Instrumente"
Wolfgang Amadeus Mozart bezeichnete die Orgel in einem Brief an seinen Vater als "König aller Instrumente" - ein Lob, das Beckmann teilt. Die Orgel decke ein sehr breites Frequenzspektrum ab, vom tiefsten Laut, den das menschliche Ohr wahrnehmen kann, bis in die höchsten Höhen - verschwindend leise bis markerschütternd laut. "Das lässt sich mit einem Spieler mit keinem anderen Instrument so abbilden", betont Beckmann. "Als Organist ist man quasi Dirigent eines großen Sinfonieorchesters und kann aus einer unendlichen Fülle an Klangfarben schöpfen."
Die Klangfarben unterscheiden sich in Deutschland je nach Region. Jedes Kloster, jede Dorfkirche hatte, wenn möglich, eine eigene Orgel. "Die Orgelbauer haben Klänge produziert, die sie in ihrem Ohr drin hatten. Die Klangfarben, die sich daraus entwickelten, sind nichts anderes als konservierte Dialekte, insbesondere Vokale" - der Stimme nachempfunden, erklärt Musikwissenschaftler Kaufmann. Eine sächsische Orgel habe daher mehr 'oah', eine norddeutsche mehr 'aa', eine süddeutsche 'eeh' im Klang. "Diese dialektalen Formen im Orgelklang machen unsere Orgellandschaften so facettenreich wie nirgends sonst auf der Welt", betont Kaufmann.
Auch ist jedes Instrument ein Einzelstück, das in der Regel auf den jeweiligen Raum angepasst und dafür gefertigt wurde. Das führt dann zu Problemen, wenn Instrumente nachträglich modisch verändert wurden.
"Im Zuge von Schönheitsoperationen nach dem Motto 'größer, lauter, mehr' haben viele Instrumente ihren Charakter verloren", sagt Kaufmann. Fast immer passten im Originalzustand Klang, Technik, Intonation und Raum am besten zueinander. Heute würden manche Instrumente für viel Geld in ihren Ursprungszustand versetzt.
In der Kirche anders als im Konzertsaal
Jedes Instrument bietet andere Möglichkeiten, mit Klangfarbe und Registern zu spielen. Dazu kommen besonders für Kirchenorganisten Freiheiten der Improvisation. Denn sie begleiten die Handlungen im Gottesdienst oft aus dem Stegreif. "Die Musik sollte zur liturgischen Handlung passen, nicht zu lang oder zu kurz sein und eine Klangsprache treffen, die sich entweder an historischen Vorbildern ausrichtet oder der eigenen entspricht", sagt Domorganist Beckmann.
Auch sonst spielt es sich in einer Kirche ganz anders als im Konzertsaal. In Konzertsälen verstummt der Orgelklang nach 1,8 bis 2 Sekunden. "Im Speyerer Dom dauert der Nachhall etwa 13 Sekunden", sagt Organist Kaufmann. "Das beeinflusst das Spiel und erhöht in gewisser Weise den Spaßfaktor, weil man sich vom Klang tragen lassen kann."
Orgelmusik und Orgelbau hat die Unesco 2017 als immaterielles Kulturerbe aufgenommen. Der Kulturaspekt spiegelt sich für Kaufmann auch in der Qualität des Handwerks. "Eine gut gebaute Orgel hält Jahrhunderte", sagt der Musikwissenschaftler. "Im Vergleich zu unserer Wegwerfgesellschaft oder der Halbwertszeit eines Computers sind das ganz andere Dimensionen."