Historiker twittert aus dem Mittelalter

Immer dieses kleine Messerchen

Unter dem Hashtag #DailyRPG twittert der Mittelalterhistoriker Alexander Sembdner kleine Geschichten, gerne rund um Mord und Totschlag oder Ehebruch. Seine Quelle: Bittbriefe an die Kurie. Ihre Register umfassen rund 150 Bände.

Autor/in:
Christiane Laudage
Alte Bücher, in Leder eingebunden / © Shaiith (shutterstock)
Alte Bücher, in Leder eingebunden / © Shaiith ( shutterstock )

Conradus Mustheller aus Balingen, Priester der Diözese Konstanz, hatte im Jahr 1459 ein Problem mit einem Markward, der ihm in der Beichte von seinem Ehebruch mit einer verheirateten Frau erzählte. "Als ich ihm gesagt habe, dass er damit aufhören soll, ist er so ausgerastet, dass ich mich aus Angst in meinem Haus verschanzt habe. Dort ist aber Markward mit Lanze und Schwert bewaffnet eingedrungen. Da ich nicht ausweichen konnte, habe ich die Lanze abgewehrt und ihn mit meinem kleinen Messerchen verletzt, woran er zehn Tage später gestorben ist. Ich bekomme doch deswegen keine Schwierigkeiten, oder?"

150 Registerbände mit Bittschriften

Wer konnte dem Priester in seiner Not helfen? Die Apostolische Pönitentiarie in Rom, denn sie war und ist für Gewissensfragen zuständig. Die Bittschriften (Suppliken) an den Gerichtshof aus dem 15. Jahrhundert sind gelegentlich sehr lustig, vorausgesetzt man kann Latein auch in der Alltagsvariante. Der Leipziger Historiker Alexander Sembdner twittert seit einiger Zeit eine Auswahl von Fällen vom jeweiligen Tagesdatum.

Die Supplikenregister der Pönitentiarie reichen von 1410 bis zur Auflösung des mittelalterlichen Amtes im Jahre 1569 und umfassen etwa 150 Registerbände. Menschen aus ganz Europa wandten sich nach Rom, wenn sie ein ernsthaftes Problem hatten, das vor Ort nicht zu lösen war. Nicht umsonst hat der Historiker Ludwig Schmugge die Pönitentiarie auch als "römischen Gnadenbrunnen" bezeichnet.

Tiefe Einblicke in die Gewissensnöte der Menschen

Im Repertorium Poenitentiariae Germanicum (RPG) sind die an die Pönitentiarie gerichteten Suppliken (Bittschriften) von Personen, Kirchen und Orten des Deutschen Reiches verzeichnet. Das von Ludwig Schmugge herausgegebene Quellenwerk aus dem Vatikanischen Archiv gibt tiefe Einblicke in die Gewissensnöte der Menschen. Und was in Zeiten von geschlossenen Bibliotheken besonders wichtig ist: Man kann eine Datenbank benutzen - eine unterschätzte, aber unglaublich reichhaltige Quelle.

"Bei Mord und Totschlag hingegen, besonders wenn Geistliche involviert waren, verlangte die Pönitentiarie eine ausführliche und detaillierte Darstellung des Falls, denn davon hingen Bewertung und Urteil ab", erklärt der Historiker. In der Regel haben die Bittsteller versucht, ihre Schuld zu minimieren. Deswegen lesen sich solche Eingaben wie ein kontinuierliches "Dumm gelaufen", "Ich konnte nichts dafür" oder "Es war Notwehr". Letztendlich war es immer dieses kleine Messerchen und dann lag jemand tot am Boden.

Kulturgeschichtlich interessante Hinweise

Was ihn als Historiker besonders an diesen Quellen fasziniert: "So erfahren wir eben davon, dass ein Geistlicher beim traditionellen Kanonenschuss in der Silvesternacht einen Finger eingebüßt hat. Das ist nicht nur kurios, sondern auch kulturgeschichtlich interessant, wenn schon vor 500 Jahren geböllert wurde. Andere berichten von Unfällen oder Streitigkeiten im eigenen Haus und da wird dann schon mal der gesamte Hausrat beschrieben, der bei einer Schlägerei zum Einsatz kam."

Seine persönliche Lieblingsgeschichte aus den Supplikenregistern stammt aus dem Jahr 1441. Der Priester John Smyth aus der Diözese Glasgow nahm an einem Fußballspiel teil, wobei die beiden Mannschaften sowohl aus Geistlichen wie Laien bestanden. Das Spiel war Teil der Festlichkeiten anlässlich des Katharinentags (25. November), wie es in seinem Land Gewohnheit war.

Mittelalterliche Lebenswelt sichtbar machen

John Smyth wollte einem gegnerischen Spieler den Ball abnehmen, doch hatte unglücklicherweise ein Mitspieler die gleiche Idee. So sind dann beide miteinander zusammengestoßen ohne den Ball auch nur zu erreichen. John Smyths Mitspieler verletzte sich durch den harten Aufprall allerdings so sehr, dass er wenige Zeit später daran verstarb.

"Diese Geschichte beinhaltet vieles von dem, was die Supplikenregister als Quelle so wertvoll macht. Nicht nur die sehr frühe und explizite Beschreibung eines Fußballspiels, die als Einzelbefund schon aufhorchen lässt", sagt der Historiker. "Die Supplikenregister halten häufig solche kleinen Überraschungen bereit. Daneben aber breitet sich in diesen Geschichten die ganze mittelalterliche Lebenswelt vor dem geistigen Auge aus. Hier erzählen uns die Menschen selbst, was sie umtrieb, zum Teil sogar in wörtlicher Rede. Näher kommt man den Menschen des späten Mittelalters kaum."

 

Quelle:
KNA