Der frisch auf der Bibel seines Urgroßvaters vereidigte US-Präsident Joe Biden erwähnt den Heiligen Augustinus, zitiert aus dem 30. Psalm und fordert die Amerikaner mitten in seiner leidenschaftlichen Rede zum Amtsantritt dazu auf, ein stilles Gebet für die rund 400.000 Toten der Covid-19-Pandemie zu sprechen: Das Thema seiner Ansprache vor den Stufen des Westflügels des Kapitols, über die am 6. Januar Anhänger von Donald Trump das Allerheiligste der amerikanischen Demokratie angegriffen hatten, könnte kaum tiefer im Glauben verankert sein.
"Heute an diesem Januartag ist meine ganze Seele dabei, Amerika zusammenzubringen, unser Volk zu versöhnen, unsere Nation zu vereinen", appelliert der mit 78 Jahren älteste Präsident in der US-Geschichte an den guten Willen einer gebrochenen Nation. "Ich bitte alle Amerikaner, mir bei diesem Anliegen zu helfen."
Hauskirche des Erzbischofs von Washington
Der scheidende Vizepräsident Mike Pence, der Trumps Abschiedszeremonie ferngeblieben war, signalisierte mit seiner Anwesenheit beim friedlichen Übergang der Macht die Bereitschaft, dazu beizutragen. Wie auch der republikanische Minderheitenführer im Senat, Mitch McConnell, der den Tag mit der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und dem Katholiken Biden mit einem Gottesdienst in der St. Matthew-Kathedrale begonnen hatte.
Sie ist die Hauskirche des Erzbischofs von Washington, Wilton Gregory. Dieser hatte kürzlich als erster Schwarzer in den USA von Papst Franziskus die Kardinalswürde verliehen bekommen. Dass er seine Pforten weit für den zweiten Katholiken im Weißen Haus öffnete und am Vorabend der Inauguration vor dem Lincoln-Memorial eine bewegende Ansprache bei dem ersten nationalen Gedenken für die Corona-Opfer hielt, entspricht dem Geist des Papstes.
Der sieht in Biden trotz Differenzen bei Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Ehe und Genderfragen in erster Linie einen Verbündeten bei anderen Prioritäten der Kirche wie dem Einsatz für soziale Gerechtigkeit, den würdigen Umgang mit Einwanderern und dem Klimaschutz. Franziskus bekräftigte in seinem Glückwunschschreiben zum Amtsantritt die Botschaft des neuen Präsidenten: "Die gravierende Krise unserer menschlichen Familie verlangt eine weitsichtige und vereinte Antwort".
Vergifteter Glückwunsch
Für Irritation sorgte dagegen der Vorsitzende der katholischen US-Bischofskonferenz (USCCB), Erzbischof Jose Gomez aus Los Angeles, der dem Katholiken im Weißen Haus einen vergifteten Glückwunsch ausrichtete. Gott möge Biden "Weisheit und Mut schenken, diese großartige Nation zu führen". Er freue sich darauf, "mit Präsident Biden und seiner neuen Regierung und dem Kongress zu arbeiten". Es werde Felder der Zusammenarbeit und der Opposition geben.
Und dann: "Wir können nicht still sein, wenn in unserem Land jährlich fast eine Million ungeborene Leben durch Abtreibungen weggeworfen werden", so Gomez. Er hatte kurz nach der Wahl eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um das "komplexe und schwierige" Verhältnis zu Biden zu gestalten.
Der Direktor des Zentrums für Religion und Kultur an der katholischen Fordham University, David Gibson, sprach von einem "schlechten Signal" der Bischöfe. Es unterminiere Bemühungen, "die katholische Soziallehre zu fördern und die katholische Kirche als treibende Kraft für das Gemeinwohl zu positionieren."
Der einflussreiche Chefredakteur des Jesuiten-Magazins "America", James Martin, legte in einem Meinungsbeitrag nach dem Trump-Aufstand im Kongress den Finger in die Wunde: "Eine alarmierende Zahl an katholischen Klerikern hat zu einer Umgebung beigetragen, die zu den tödlichen Unruhen auf dem Kapitolhügel geführt haben", schrieb er.
"Ironischerweise haben Priester und Bischöfe, die sich als lebensbejahend sehen, geholfen, ein hasserfülltes Klima zu schaffen, dass zu Chaos, Gewalt und ultimativ Tod geführt hat."
Bedingungen statt ausgestreckte Hand
Der Vorsitzende der USCCB fühlt sich nicht angesprochen. Statt Bidens ausgestreckte Hand zu ergreifen, stellt er Bedingungen. Wenn der Präsident "mit dem vollen Respekt für die religiösen Freiheiten der Kirche" ein Gespräch über Abtreibung beginnen würde, würde das viel zur Heilung des Landes beitragen.
Das hatte nicht viel mit dem Geist des Gebets zu tun, dass der ehemalige Präsident der katholischen Georgetown Universität, Leo O'Donovan, während der Amtseinführung sprach. "Wir bekennen unser vergangenes Versagen, unsere Vision von Gleichheit, Teilnahme und Freiheit für alle zu leben", betete der Jesuit. "Und wir bekräftigen unser Versprechen, diese Vision zu erneuern und füreinander in Wort und Tat da zu sein".