Theologe interpretiert Psalmen für die Gegenwart

"Es ist wie bei einem guten Whisky"

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, so heißt es in der Bibel, er lebt genauso vom Wort. Wie Psalmen zu Kraftworten werden und uns in der Corona-Krise helfen, weiß Theologe Reiner Knieling. Er hat in seinem Buch 50 Psalmen neu formuliert.

Ein Zettel mit einem Psalm zwischen Dünengras / © Harald Oppitz (KNA)
Ein Zettel mit einem Psalm zwischen Dünengras / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie haben von jungen Jahren an eine besondere Beziehung zu den Psalmen?

Prof. Dr. Reiner Knieling (Theologe und Autor): Oder die Psalmen zu mir, das beruht auf Gegenseitigkeit. Also entweder ich habe da ein paar Worte gefunden, die mich besonders angesprochen haben, oder die haben mich gefunden.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie 50 dieser Psalmen neu formuliert. Haben Sie die sozusagen in heutige Sprache übersetzt?

Knieling: Es ist weniger eine Übersetzung, auch nicht eine Übertragung, es ist sozusagen eine etwas freiere Wiedergabe der Psalmen. Es ist mehr so eine Neuformulierung, könnte man sagen, eine Reformulierung. Die Texte sind aus dem heutigen Lebensgefühl entstanden, und das ist so geworden, dass ich manche der Psalmen im Luthertext seit jungen Jahren und manche seit dem Studium oder später mit mir herumtrage, manche auswendig oder fast auswendig. Vieles dazu weiß ich an Hintergründen und das hat sich wie verwebt mit eigenen Lebenserfahrungen. Dann entsteht auf einmal eine eigene Formulierung, sodass mehr das Lebensgefühl der heutigen Zeit vorkommt.

Es gibt ja biblische Begriffe wie Sünde, Buße, Umkehr, die bestimmte Assoziationen, bestimmte Gefühle auslösen oder auch Widerstände oder Unverständnis. Ein Kollege sagte, das Schöne an diesen neuen Texten sei, dass sie andere Bilder und andere Assoziationsketten erzeugen als die ursprünglichen Texte. Also, dass die Denkbahnen in andere Richtungen gelenkt werden und die Empfindungen auch und dadurch manches erschlossen wird, was vielleicht in der klassischen Sprache für manche Menschen zumindest verstellt ist.

DOMRADIO.DE: Damit wir uns das ein bisschen vorstellen können, haben Sie vielleicht ein kurzes Beispiel für uns?

Knieling: Ich habe mal den Psalm 42 ausgewählt, da heißt es im ursprünglichen Text, also bei Luther: "Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott! Denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist." Und daraus ist jetzt als aktueller Text folgendes geworden: Manchmal fehlt mir der Zugang – zu mir, meinen Gefühlen, den inneren Regionen. Als ob ich die Schlüssel verlegt hätte, einfach nicht reinkomme und doch ahne, dass da was ist, was wichtig ist. Manchmal fehlt mir der Zugang zu meiner Sehnsucht und dem, was ich mir wünsche. Ich merke erst spät: Ich habe mich verloren, bin leer geworden und ohne Kraft. So fange ich an, mich wieder zu spüren. Sehne mich, wonach eigentlich? Was brauche ich innendrin? Kann eine Seele Durst haben und Hunger mein Herz? Brauche ich dich, Gott? Kannst du mir geben, was fehlt und was ich nicht so gut kenne? Kann ich satt werden bei dir, Ruhe finden und Kraft?

DOMRADIO.DE: So hört sich das dann an, wenn Sie einen Psalm neu formulieren. Das ist sicher nicht einfach. Was sind besondere Herausforderungen, wenn man so einen uralten Text wirklich in ein neues Zeitgefühl überführen möchte?

Knieling: Die besondere Herausforderung war, glaube ich, die lange Zeit, das mit mir herumzutragen. Also ich dachte gestern, als ich mich innerlich ein bisschen auf dieses Interview vorbereitet habe: Es ist wie bei einem guten Whisky. Je länger er lagert, desto besser ist er in der Regel. Also nicht, dass das jetzt etwas Alkoholisches wäre hier, diese Psalmen. Aber ich glaube, das Entscheidende ist tatsächlich, dass das Hintergrundwissen und die Texte, die sich mit vielen meiner Lebenserfahrungen und mit den Erfahrungen anderer verbunden haben, dass die lange mit mir gingen und ich sozusagen gleichzeitig die Kenntnis in mir trage und einen gewissen Abstand dazu habe. 

So hänge ich nicht mehr an den Formulierungen, sondern es entsteht eine gewisse Freiheit. In jedem Psalm steckt ja so ein bestimmter Aufbau. Im Psalm 23 zum Beispiel geht es mit den "grünen Auen" los, dann kommt das "dunkle Tal" und am Schluss "bleiben im Hause des Herrn immerdar". Die gedeckte Tafel, die da vor Augen ist. Diese Dynamik, die Bewegung, die in den Psalmen drin steht, die aufzunehmen und die dann aus aktuellen Erfahrungen heraus in einer gewissen Freiheit neu zu formulieren, das war die eigentliche Herausforderung.

Ich kann es auch anders sagen: Die Texte kann ich nicht einfach schreiben. Ich kann mich nicht hinsetzen und drei solche Texte schreiben, sondern ich erlebe bestimmte Dinge, erfahre bestimmte Dinge. Und dann denke ich: "Oh, so könnte ich es schreiben". Und dann setze ich mich hin und schreibe das einmal runter und dann wird weiter gefeilt. Das ist dann die Rohfassung und dann gibt es mehrere Schichten, um das Kunstwerk zu bearbeiten, bis dann der fertige Text entstanden ist.

DOMRADIO.DE: Sie haben das Ganze dann ja "Kraftworte" genannt, also Worte, die Kraft geben und solche Worte, die können wir gerade jetzt in der Corona-Pandemie wirklich gut gebrauchen. Was meinen Sie, was können uns die Psalmen jetzt in der Krise sagen?

Knieling: Vielleicht hat man an dem eben gelesenen Text gemerkt, dass der auch in der Corona-Zeit entstanden ist. Eine Ärztin sagte letzthin: In den tiefen Schichten der Seele ist so einiges durcheinandergeraten jetzt in diesem letzten Jahr, was wir noch gar nicht richtig wahrgenommen haben.

Genau an der Stelle, finde ich, setzen die Psalmen an und helfen uns, diese tiefen Schichten besser zu erkunden. Ich bin im Gespräch mit Gott. Ich bin im Gespräch mit mir selber. Ich entdecke in diesem Gebet etwas, was vielleicht hochkommt in meiner Seele und was ich gar nicht so gerne wahrhaben will. Und ich bin im Gegenüber zu diesem liebenden Gott dann so verankert, verbunden, aufgehoben, dass ich auch das Unangenehme in mir erst einmal da sein lassen kann, also den Schmerz darüber, was das letzte Jahr alles nicht gefeiert werden konnte. Das ist ja nicht so einfach zu empfinden.

Die Psalmen sind für mich ein gutes Gefäß, wo das aufgehoben ist, wo es angeguckt werden kann, wo ich es mal so anfänglich spüren kann und gleichzeitig mit Gottes Liebe verbunden bin und es deshalb da sein darf. Also, das ist für mich das Kraftvolle und auch das Lösende, das in den Psalmenworten steckt. Wenn ich selber an diesen Übertragungen arbeite, merke ich, tut es meiner eigenen Seele gut und mir gehts in der Regel anschließend besser, was ja nicht bei jeder Arbeit der Fall ist.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Buchhinweis: Reiner Knieling. Kraftworte: Psalmen neu formuliert. 2021, adeo. 15 Euro.


Reiner Knieling / © Evangelische Kirche im Rheinland (epd)
Reiner Knieling / © Evangelische Kirche im Rheinland ( epd )
Quelle:
DR
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