Kira* hat schnell raus, wie viele blaue Luftballons auf der bunten Zeichnung aufgeblasen werden. Und auch die Anzahl der roten Äpfel kann sie mühelos benennen. Welche Kinder auf dem Wimmelbild einen Schulranzen oder gestreifte Turnschuhe tragen, zeigt sie ebenfalls, während sie anschaulich und in zusammenhängenden Sätzen erzählt, was ihr von den vielen Einzelmotiven sonst noch aus ihrem Alltag bekannt vorkommt. Das Mädchen mit den blonden Locken ist eine aufgeweckte Fünfjährige, der diese spielerischen Aufgaben des Entdeckens, Addierens und Beschreibens sichtlich Freude machen. Sie ist neugierig, konzentriert bei der Sache und begreift sofort, worauf Gertrud Trebels, die Leiterin der Kölner Domsingschule, beim Betrachten der einzelnen Blätter hinaus will.
Dass die Pädagogin dabei mit ihr gar nicht – wie sonst während solcher Kennlerngespräche üblich – bei sich im Büro an einem Tisch sitzt, sondern ihre Fragen bei einer Video-Schalte im Beisein der Eltern stellt, irritiert Kira nicht sonderlich. Sie kennt das ja nicht anders aus dem zurückliegenden Jahr. Oma und Opa sind eben auch schon viele Monate nur noch per Zoom zu sehen. Daran hat sich das Kind längst gewöhnt. Und daran, dass es mit den Großeltern keine stürmischen Umarmungen mehr live an der Haustür gibt, sondern allenfalls ein freundliches Zuwinken via Webcam per Livestream, auch. Nicht anders ist es also jetzt. Dass sich viele Kontakte – und vor allem die mit Erwachsenen – nur noch digital abspielen, ist für sie längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Kinder switchen schließlich schnell um. Sie akzeptieren als Normalität, was sie tagaus, tagein vorgelebt bekommen.
Hellauf begeistert beim "Tag der Offenen Tür"
Kira gehört zu den vielen Fünf- und Sechsjährigen, die in den vergangenen Tagen an einem solchen Kennlerngespräch teilgenommen haben und sich damit gerade auf die insgesamt 50 zur Verfügung stehenden Plätze der zwei ersten Klassen in der Kölner Domsingschule bewerben. Denn ab Sommer will sie die zweizügige Grundschule des Erzbistums in Lindenthal besuchen. Beim „Tag der Offenen Tür“ im Oktober waren sie und ihre Eltern von der weitläufigen Anlage samt Chorzentrum sofort hellauf begeistert. Doch vorher muss Kira die Schulleitung, zu der auch Annette Riehm gehört, noch von ihrer Schulfähigkeit und -reife überzeugen. Aus diesem Anlass führen Grundschulen in der Regel Eignungstests durch, die eine sinnvolle Ergänzung zur Schuleingangsuntersuchung durch das Gesundheitsamt sind.
Beide Einrichtungen prüfen, ob das Kind körperlich, sozial und emotional die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, um im Schulalltag bestehen zu können. Ist seine Entwicklung altersgerecht? Erbringt es die geforderten kognitiven Fähigkeiten? Ist es in der Lage, dem Unterricht zu folgen? Wie groß ist der Wortschatz? Kann es seine Meinung äußern, Konflikte lösen und Regeln einhalten? Besitzt es die nötige Konzentration, um die neuen Anforderungen zu meistern?
Schulleiterin Trebels: Sind wir die richtige Schule für das Kind?
"Von all dem wollen wir uns einen Eindruck verschaffen und das Kind nicht testen, sondern kennenlernen – daher bewusst auch das Wort ‚Kennlerngespräch’. Es geht nicht darum, Druck in Form einer Prüfungssituation aufzubauen, sondern lediglich eventuelle Auffälligkeiten rechtzeitig zu erkennen, um diese bis zur Einschulung möglicherweise noch angehen zu können", erläutert Schulleiterin Trebels umsichtig. "Am Ende soll auch klar werden, ob wir mit unserem Ganztagsangebot und dem Schwerpunkt Musik für das Kind die richtige Schule sind und es bei uns glücklich werden kann."
Die onlinegestützte Erstbegegnung mit den zukünftigen Erstklässlern ist auch für Trebels und Stellvertreterin Riehm neu, die diese Art von Aufnahmegesprächen turnusgemäß im Januar führen. "Wir hatten zunächst große Bedenken, ob die Kinder dieses digitale Format annehmen würden, sind nun aber total positiv überrascht, wie gut alle mitgemacht haben", so die Bilanz der beiden. Auch die Eltern hätten diese doch eher ungewohnte Form der Unterhaltung am Bildschirm wunderbar unterstützt und darüber hinaus die Chance gehabt, sich auch aus einer anderen Stadt oder sogar dem Ausland dazuzuschalten. "Die meisten Kinder reagierten ganz unverstellt, authentisch und hatten keinerlei Hemmungen – eben weil sie in ihrer gewohnten Umgebung waren. Das ist in der Vergangenheit oft ganz anders gewesen. Da zeigten sich manche allein schon von dem unbekannten Schulgebäude eingeschüchtert und wortkarg."
Digitales Kennenlernen läuft bei Fünfjährigen entspannt ab
"So paradox das klingt: Wir waren an den Kindern – trotz räumlicher Trennung – viel näher dran als sonst. Es gab so gut wie keine Anlaufschwierigkeiten miteinander", resümiert Gertrud Trebels erfreut. "Auch wenn diesmal die sonst üblichen Einstiegsthemen in ein Gespräch – wie zum Beispiel Fragen nach dem Turn- oder Schwimmverein – gerade nicht angesagt waren, weil einfach nichts stattfindet, und auch sonstige Freizeitaktivitäten mit Spielkameraden als möglicher Aufhänger weggefallen sind." Lockdown-unabhängig dagegen sei die Frage nach dem ersten Wackelzahn. "Die bricht eigentlich immer das Eis."
Da viele Eltern derzeit im Homeoffice arbeiteten, hätten außerdem bei den meisten Kindern beide Elternteile an dem Gespräch teilnehmen können. Auch das sei von Vorteil gewesen und habe bei den Kleinen für zusätzliche Entspannung gesorgt, ergänzt Annette Riehm. "Wir waren selbst erstaunt, wie gut die Kontaktaufnahme funktioniert hat, auch wenn die digitale Kommunikation auf beiden Seiten maximale Konzentration erfordert und es manchmal schon zum Schmunzeln war, bei fremden Familien gefühlt mit am Küchentisch in der guten Stube zu sitzen."
Annette Riehm: Wir lernen digital immer noch dazu
Trotzdem, da machen sich die beiden Pädagoginnen nichts vor, ersetze eine solche Videokonferenz keineswegs die persönliche Begegnung. "Aber wir gehen gerade ganz neue Wege, sehen vor allem auch die Chancen und den Nutzen digitaler Kommunikation und sind dankbar für die technischen Möglichkeiten, auf diese Weise das System Schule am Leben zu erhalten." Nach ersten Startschwierigkeiten laufe mehr oder weniger nun fast die gesamte dienstliche Kommunikation über virtuelle Programme. "Noch vor einem Jahr hätte wir nicht für möglich gehalten, wie selbstverständlich wir mittlerweile mit der Lernplattform ‚Moodle’, die das Erzbistum allen seinen Schulen anbietet, umgehen oder das Videokonferenztool ‚Big blue button’ bei unseren Lehrerkonferenzen zum Einsatz kommt", so Riehm. "Beim Thema ‚Digitalisierung’ machen wir uns längst nicht mehr bang. Im Gegenteil. Jeder Tag bringt Fortschritte. Wir lernen immer noch dazu. Hier zeigt sich, die Pandemie hat auch was Gutes."
Das aktuelle Infektionsgeschehen erziehe nun mal dazu, jede Form des Austauschs, wenn nur irgendwie möglich, ins Netz zu verlagern, um jede Ansteckungsgefahr schon im Keim zu ersticken – was nebenbei eben auch den einen oder anderen Anfahrtsweg oder Überbrückungsstunden und damit unterm Strich viel Zeit erspare. "Digitale Kommunikation ist in Pandemie-Zeiten eine unverzichtbare Alternative zum Präsenzunterricht geworden, über die wir noch vor gar nicht langer Zeit nicht ansatzweise nachgedacht haben", erklärt die stellvertretende Schulleiterin. "Heute ist das Alltag."
Den Kindern fehlt die Schule als wesentlicher Lebensraum
Trotzdem sind sich beide Pädagoginnen darin einig, dass das Vertrautwerden mit diesen gänzlich neuen Arbeitsbedingungen zunächst auch der Gewöhnung bedurfte. "Wir sind Teil eines Prozesses, der viel persönliches Engagement erfordert, aber angesichts der Umstände auch eine Weiterentwicklung des Bestehenden notwendig macht. Auf der anderen Seite fehlt unseren Kindern – trotz grundsätzlich positiver Erfahrungen mit diversen Video-Systemen – die Schule als ein ganz wesentlicher Lebensraum, in dem normalerweise soziale Interaktion stattfindet. Das lässt sich nicht schönreden. Wenn Präsenzunterricht, Choreinheiten und Instrumentalunterricht ausfallen und stattdessen nur noch ausschließlich am Bildschirm gelernt wird, geht etwas für Kinder Lebensnotwendiges verloren."
Seit Monaten nicht zusammen lernen, spielen, lachen, singen oder essen zu können, wie es das Ganztagskonzept der Domsingschule vorsehe, betont Riehm, entspreche nicht dem kindlichen Bedürfnis nach gemeinschaftlichem Erleben und sei letztlich widernatürlich. „Corona und das damit verbundene Social distancing“, davon ist die 53-Jährige überzeugt, "wird für die Kleinsten in unserer Gesellschaft prägend sein, eine Vereinzelung befördern und im sozialen Miteinander für unabsehbare Spätfolgen sorgen." Schon jetzt vermuteten Experten, dass die Langzeitwirkung der Pandemie im frühkindlichen Entwicklungsstadium nicht annähernd kalkulierbar sei.
*Der Name wurde von der Redaktion geändert.