KNA: Erzbischof Centellas, Sie haben zusammen mit Ihren Amtsbrüdern im November zu nationaler Versöhnung aufgerufen. Wie weit ist Bolivien damit gekommen?
Ricardo Ernesto Centellas Guzman (Erzbischof von Sucre, Vorsitzender der Bolivianischen Bischofskonferenz): Das haben wir nicht zum ersten Mal getan. Versöhnung ist ein schwieriger Prozess, besonders wenn Konfrontationen andauern. Wir standen im November 2019 am Rand eines Bürgerkriegs, zumindest in einigen Bereichen der Gesellschaft. Immer noch stehen wir vor der Aufgabe, unsere kulturellen, regionalen, politischen, ideologischen und religiösen Unterschiede zu überwinden, um gemeinsam für das Wohl Boliviens zu arbeiten. Denn die Spaltung setzt sich fort: zwischen Hoch- und Tiefland; zwischen Land und Stadt mit unterschiedlichen Ressentiments auf den jeweiligen Seiten.
KNA: Bolivien bezeichnet sich selbst als "plurinationaler Staat". Sind denn alle Nationen beziehungsweise indigenen Gemeinschaften tatsächlich gleichberechtigt?
Centellas: Die politische Verfassung des Staates fordert eindeutig soziale Inklusion, insbesondere der indigenen Völker. Nach mehr als einem Jahrzehnt lässt sich allerdings klar feststellen, dass es bei dieser Absicht in der Theorie geblieben ist. In der Praxis besteht die soziale Ungleichheit weiter und ist teils stark ausgeprägt.
KNA: Können Sie Beispiele nennen?
Centellas: Die Lage der Indigenen im Schutzgebiet TIPNIS im Zentrum des Landes etwa, die weder angehört noch in ihren Rechten und ihrer Identität respektiert werden. Das Gleiche gilt für die indigenen Gemeinden im Amazonasgebiet, die völlig ignoriert werden und wegen der Ausbeutung von Ressourcen wie Wald und Wasser sowie wegen des Bergbaus ihre angestammten Territorien verlassen müssen. Auch viele kleinbäuerliche Gemeinschaften stehen vor dem Aus, weil ihre Bewohner keine Perspektiven mehr sehen und in die großen Städte abwandern.
KNA: Welche Folgen hat Corona für das Land?
Centellas: Zuerst einmal viele Todesfälle, von denen ein guter Teil hätte vermieden werden können. Hinzu kommt eine große Zahl Infizierter, die unter lebenslangen Folgen wie Lungenerkrankungen, Fibrose und anderen Einschränkungen leiden werden.
KNA: Wie kam das bolivianische Gesundheitswesen mit der Krise zurecht?
Centellas: Die ohnehin schon prekäre Versorgung ist völlig zusammengebrochen. Es bräuchte eine strukturelle Veränderung des Gesundheitssystems - damit es der Versorgung der Kranken dient und nicht politischen Interessen; damit es sich um die Bedürftigen kümmert und nicht nur um die, die Geld haben.
KNA: Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Centellas: Die Pandemie hat viel Solidarität hervorgebracht. Spürbar sind Anstrengungen auf allen Seiten, um Leben zu retten. Auch wenn es oft nicht reicht - es sind Zeichen für Einigkeit und Geschwisterlichkeit. Auf der anderen Seite lernen wir neu, das Leben zu schätzen. Corona hat uns die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit unserer Existenz vor Augen geführt. Vielleicht führt das zu einer gesellschaftlichen Neuausrichtung. An erster Stelle müssen Pflege, Schutz und Förderung des Lebens stehen. Sonst laufen wir Gefahr, die Orientierung zu verlieren.
KNA: Klimawandel, Zerstörung von Regenwald, Abbau von Rohstoffen wie Erdgas oder Lithium - wo liegen im Bereich Umwelt und Wirtschaft für die Bischöfe die größten Herausforderungen für Bolivien?
Centellas: Die Erdgasreserven neigen sich dem Ende entgegen. Beim Abbau von Lithium kommen wir nicht voran.
KNA: Beides wichtige Einnahmequellen für das Land - wenngleich mit teils negativen Folgen für Mensch und Umwelt.
Centellas: Wir brauchen eine umfassende Kurswende, etwa um unseren Energiebedarf nachhaltig zu decken, indem wir verstärkt Wind- und Wasserkraft und Solarenergie nutzen. Wichtig wäre auch, Müll zu vermeiden beziehungsweise konsequent zu recyceln. Dazu fordern wir mehr Unterstützung für Kleinstunternehmen, insbesondere solcher, die zur Ernährungssicherheit beitragen und in der Landwirtschaft tätig sind. Wünschenswert ist schließlich ein struktureller Wandel in der Bergbaubranche, damit das, was bleibt, tatsächlich allen zugute kommt und nicht nur ein paar angeblichen Kooperativen und Gewerkschaftern.
KNA: Ein recht ambitioniertes wirtschaftspolitisches Programm. Finden Sie damit Gehör?
Centellas: Wir bräuchten dringend Veränderungen, um unsere Rohstoffe im eigenen Land weiterzuverarbeiten, haben aber in den vergangenen Jahren leider keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Wir sind ein Rentier-Staat, der auf der Ausbeutung von Rohstoffen beruht. Davon profitiert nur eine Minderheit. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat gar keinen Job mit einem sicheren Gehalt, sondern arbeitet in der Schattenwirtschaft, und damit gib es auch ein enormes Gefälle bei den Einkommen.
Das Interview führte Joachim Heinz.