DOMRADIO.DE: Es klingt zunächst abwegig, dass in der katholischen Männerkirche Männer Missbrauch ausgesetzt sein sollen. Was ist unter Missbrauch gegen Männer zu verstehen?
Erzbischof Ludwig Schick (DBK-Beauftragter für Männerseelsorge): Das Thema "Machtmissbrauch" wird seit längerer Zeit in der Gesamtgesellschaft diskutiert, bei uns in Deutschland, in Europa und international. Amtsträger missbrauchen ihre Macht für ihre Machtgier, ihre Habgier und ihren Ehrgeiz. Für Machtgier steht meist das Wort "Mobbing", für Habgier "Korruption", für Ehrgeiz "Karrieresucht mit Ellbogenverhalten". All das gibt es in der Kirche auch. Es wurde aber nicht oder kaum thematisiert. Nur wenn konkrete Fälle von Finanzskandalen, sexuellem Missbrauch oder auch Amtsmissbrauch auftraten, war das Thema virulent.
DOMRADIO.DE: Bleibt die Frage nach der Männerkirche!
Schick: Um das Phänomen Machtmissbrauch von Männern gegen Männer in der Kirche zu erfassen, ist es auch wichtig zu sehen, dass die Kirche keine Männerkirche ist, vor allem was die Angestellten und die Arbeitsverhältnisse angeht. Die katholische Kirche mit der evangelischen Kirche ist einer der größten Arbeitgeber in Deutschland; die meisten Angestellten sind aber Frauen. Es gibt auch Frauen in leitenden Stellen, zum Beispiel in Schulen, Kindergärten, auch in Ordinariaten. Auch unter Frauen gibt es Amtsmissbrauch und es gibt Machtmissbrauch von Frauen gegen Männer und gegenseitig. Sehr wichtig ist auch noch, genau zu unterscheiden, um welche Art von Machtmissbrauch es sich handelt und gegen wen. Das alles darf nicht übersehen werden, um den Machtmissbrauch in der Kirche zu überwinden. Dennoch ist das Problem des Machtmissbrauchs von Männern gegen Männer in der Kirche eigens zu betrachten.
DOMRADIO.DE: Warum dieser eigene Blick?
Schick: Es besteht das Problem, wie auch in der gesamten Gesellschaft, dass meist Männer die Spitzenpositionen innehaben, in denen Macht konzentriert ist, wobei Macht nichts Schlechtes ist, sondern notwendig für Funktionalität und Aufgabenerfüllung jedes Unternehmens. Weil vor allem Männer die Leitungsfunktionen innehaben, kommen Männer in abhängigen Positionen oft nicht genügend in den Blick. Über die genannten Arbeitsverhältnisse in der Kirche hinaus, gibt es auch Vereine und Gruppen, Orden und geistliche Gemeinschaften und andere mehr, in denen Männer über Männer Autorität und Macht haben. Die Initiative 'Machtmissbrauch gegen Männer' will diesem Phänomen nachgehen und es ins Bewusstsein bringen. Dabei geht es um Grenzverletzung und Übergriffigkeit, spirituellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt, die Männer gegen Männer ausüben. Die Auftaktveranstaltung war nur ein erster Aufschlag. Weitere Workshops und Symposien sind bereits geplant.
DOMRADIO.DE: Überall dort, wo Hierarchien aufgebaut sind, also auch im außerkirchlichen Bereich, gibt es Machtmissbrauch. Was macht diesen in der Kirche so besonders, dass deswegen extra Konferenzen zur Aufarbeitung durchgeführt werden?
Schick: Wie gesagt, es geht um Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln bezüglich Machtmissbrauch in der Kirche von Männern gegen Männer. Zunächst noch einmal: In der Kirche ist das Problem Machtmissbrauch von Männern gegen Männer genauso vorhanden wie in der Gesellschaft insgesamt. Aber es gibt vor allem zwei Besonderheiten: einmal das "Selbstbildnis der Kirche": 'Bei uns aber ist es doch nicht so. Wir sind doch alle Brüder.' Mit diesem Selbstbildnis betrügt man sich, wenn man nicht selbstkritisch aufpasst. Im Matthäusevangelium heißt es: "Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein." (Mt 20,25-27) und im 23. Kapitel des Matthäusevangeliums lesen wir: "Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder" (Mt 23,8). Diese Schriftworte sind kein Zustandsbericht, sondern enthalten Aufforderungen Jesu an seine Jünger und an seine Gemeinden für alle Zeiten.
DOMRADIO.DE: Und die zweite Besonderheit?
Schick: Der zweite Grund ist, dass Männer mit Leitungsfunktion in der Kirche ihre Autorität und Vollmacht von Gott oder Jesus Christus ableiten. Darüber hinaus haben sie den Auftrag und Anspruch, etwas Höheres und Göttliches, das Reich Gottes, das Evangelium, die Kirche Jesu Christi etc. voranzubringen. Dafür haben sie göttliche Autorität und Vollmacht. Das macht die Leitungsämter in der Kirche zu etwas ganz Besonderem.
Auf der anderen Seite stehen die untergebenen Männer, die die höhere Autorität im Geist der Nachfolge Jesu annehmen müssen, wozu Sich-Unterordnen, Gehorchen, Demut und auch Leiden gehören. Wenn sie von Machtmissbrauch betroffen sind, machen sie es deshalb nicht offenbar, manchmal sind sie sich ihrer Leiden nicht einmal bewusst. Wenn dann die einen nach vorne streben und ihre Vollmachten einsetzen und dabei die anderen in ihrem Befinden nicht wahrnehmen und diese alles hinnehmen, entsteht ein fataler Teufelskreis. Das ist aber eine Auffassung von Macht und Unterordnung unter die Autorität, die nicht dem Evangelium entspricht. Amt, Vollmacht und Autorität in der Kirche sind von Jesus Christus gegeben. Sie müssen vom Geist Jesu inspiriert sein und dem Reich Gottes dienen. Dabei ist die Menschenwürde jedes Einzelnen, wozu seine Freiheit und seine Selbstbestimmung, auch seine Bedürfnisse gehören, unabdingbar.
DOMRADIO.DE: Welche Konsequenzen sind unabdingbar, um Machtmissbrauch gegen Männer zu verhindern?
Schick: Wie gesagt: Macht muss wahrgenommen und ernstgenommen werden und ist mit jedem Leitungsamt verbunden. Die Macht muss aber kontrolliert werden. Alle Amtsträger sind in die Gemeinschaft der Kirche eingebunden. Das bedeutet, sie müssen in Teams gebunden sein, und es muss ein regelmäßiges Feedback geben. Das schreibt auch das Neue Testament vor.
Die spirituelle Dimension muss eine Rolle spielen. Im Blick auf das Evangelium und auf Jesus dürfen alle Ämter und die damit verbundenen Vollmachten immer nur für den Dienst an den Einzelnen und der Gemeinschaft genutzt werden. Das Wort Jesu: "Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10), muss für alle Amtsträger gelten. Wahrhaftigkeit und Transparenz bei jeder Amtsführung sind gefordert. Seilschaften, Männerbünde und Klüngel - Quellen des Machtmissbrauchs - sind mit der Botschaft Jesu unvereinbar.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie auf kirchenrechtlicher Ebene Handlungsbedarf?
Schick: Das Kirchenrecht verbietet Machtmissbrauch für das eigene Fortkommen oder Karrierestreben, für den Ehrgeiz und für die Selbstbereicherung. Allerdings sind die Kontrollmechanismen und die Sanktionen sehr ausbaufähig. Hier muss das Kirchenrecht nachgebessert werden. Vor allem ist das Strafrecht im Kirchenrecht sehr unterentwickelt.
DOMRADIO.DE: Als Erzbischof sind Sie selbst mit Machtfülle ausgestattet. Und müssen sich zugleich dem Machtwort des Papstes, des Vatikans beugen. Dann sind Sie also zugleich Täter und Opfer, oder?
Schick: Ich bin weder Opfer noch Täter! Der kirchliche Gehorsam ist ein kanonischer Gehorsam zwischen Papst und Bischöfen, Bischöfen und Priestern etc. und kein Kadavergehorsam. Das wird oft nicht genügend gesehen und praktiziert. Kanonischer Gehorsam bedeutet, dass ich für Aufgaben und Ämter in der Kirche, die ein rechtmäßiger Vorgesetzter mir aufträgt, bereit bin und sie erfülle, so gut ich kann. Der, der den kanonischen Gehorsam verlangt und verlangen kann – Papst von einem Bischof, Bischof von einem Priester, Diakon von einem/einer pastoralen Mitarbeiter/in etc., kann nur Gehorsam fordern im Rahmen des Rechts, wobei auch die Moral unabdingbar einzuhalten ist. Machtmissbrauch ist ein Verstoß gegen das Recht und gegen die Moral. Das gilt auch für Papst und Bischöfe. Der kanonische Gehorsam ist auch ein dialogischer Gehorsam. Vor Übertragung von Ämtern müssen die beteiligten Personen miteinander sprechen und es muss auch eine regelmäßige Evaluation stattfinden, die wir Personalgespräch nennen.
DOMRADIO.DE: Ist nicht auch bischöfliches Schweigen in Fällen, in denen objektiv ein Machtwort nötig wäre, es aber nicht ausgesprochen wird, ein Missbrauch von Macht?
Schick: Bischöfliches Schweigen und Schweigen insgesamt, wo ein Machtwort gegen Unrecht und Machtmissbrauch nötig wäre, ist ein Verstoß gegen das Recht und zugleich ein moralisches Versagen. Das muss noch viel deutlicher in allen Bereichen der Kirche klar benannt werden. Dazu ist es wichtig, die Fallstricke des Machtmissbrauchs aus Machtgier, Habgier und Ehrgeiz aufzudecken und die Instrumente zu schärfen, die Machtmissbrauch verhindern. Dazu gehören kirchenrechtliche und moralische, aber auch psychologische und soziologische Maßnahmen und konkrete Hilfen. Gegen Machtmissbrauch helfen außerdem die gute Auswahl von Amtsträgern, die ständige Begleitung und Weiterbildung.
Das Interview führte Marion Krüger-Hundrup.