DOMRADIO.DE: Wie ist die aktuelle Situation in Japan?
Pater Heinz Hamm (Jesuit und Leiter der deutschsprachigen Gemeinde St. Michael in Tokio): Ich bin sehr dankbar, dass wir darüber sprechen. Vor allem die Opfer und die Regionen in Japan, die nach wie vor unter den Folgen dieser Katastrophe leiden, sind sehr auf Teilnahme und Mitgefühl angewiesen.
In ganz Japan sind nun die Gedenkfeiern zu Ende gegangen, denn das Erdbeben geschah um 14:26 Uhr Ortszeit. Es ereigneten sich drei Katastrophen hintereinander: das größte Erdbeben seit Jahrhunderten, der größte Tsunami seit Menschengedenken und dann, am folgenden Tag, die Kernschmelze und Explosion, weil das Kühlungssystem von Fukushima wegen der Wassermassen ausfiel.
DOMRADIO.DE: Wie haben sie diesen 11. März 2011 damals erlebt?
Hamm: Ich war gerade in Deutschland, bin aber eine Woche später zurückgeflogen. Obwohl mich alle Leute gewarnt haben, ich sollte nicht zurückfliegen. Das ist die schlimmste Katastrophe in Japan seit dem Zweiten Weltkrieg. Ganz Japan stand unter Schock. Ich habe nie erlebt, dass ein ganzes Land plötzlich so unter einer Atmosphäre des Schocks, der Trauer und der Bedrohung steht.
Am meisten betraf dies natürlich die Menschen direkt in Fukushima und Umgebung. Aber Tokio ist nur 240 Kilometer von Fukushima entfernt. Wochenlang herrschte große Angst, dass mit dem Reaktor schlimmeres passieren könnte. Zum Glück ist das aber bislang nicht eingetreten.
Aber nochmal zur Reihenfolge: Zunächst kam das Erdbeben. Daraus resultierte diese ungeheure Flutwelle, die schlagartig 20.000 Menschen vernichtet hat. Ich glaube, es gibt keinen Japaner, der diese Bilder nicht jeden Tag vor Augen hat. Es gab einen großen Schock, dass das so schnell gehen kann. Wenn ein Verwandter stirbt, dann können wir das ja irgendwie noch ertragen. Aber wenn plötzlich ganze Dörfer, Schulen, Landstriche ausgelöscht werden, dann hat das nochmal eine ganz andere Dimension.
Ich möchte heute daran erinnern, dass das primäre Problem in Japan nicht die Atomenergie gewesen ist, auch die Havarie der Reaktoren nicht. Das war in Tschernobyl ganz anders. Vielmehr sind diese Flutkatastrophe und die Folgen davon bis heute nicht nicht wirklich aufgefangen worden.
DOMRADIO.DE: Wie wird denn in Japan an an dieses Unglück, an diese Katastrophe erinnert? Was passiert im Land?
Hamm: Auf eine vielleicht für Deutschland unvorstellbare Weise. Seit Tagen wird wie in jedem Jahr pausenlos auf allen Sendern und in allen Medien über die große nationale Gedenkfeier berichtet. Diese fand nun in Anwesenheit der kaiserlichen Majestäten, der Regierung, der Abgeordneten und der stellvertretenden Familie für die Familien aus den Präfekturen statt.
Japan hat insgesamt ein ganz anderes Verhältnis zu Erdbeben. Danach sind ja weitere Erdbeben passiert. Aber dieses war so unvorstellbar schrecklich, weil sich durch die Katastrophe an den Atomreaktoren quasi die Zukunft verdüstert hat. Die Reaktoren sind ja nach wie vor noch nicht unter Kontrolle. Das ist das große Versagen der japanischen Regierung. Die hat viel zu lange gewartet, bis sie wirklich mit Plänen kam, wie man das lösen könnte. Die Voraussagen gehen in die Richtung, dass das noch 35 bis 40 Jahre dauern wird.
Mir tun vor allem die älteren Leute leid: In der Umgebung von Fukushima gibt es Hunderttausende, die wissen, dass das in ihrem Leben nie mehr geheilt wird. Die jüngeren Familien sind natürlich weggezogen, denn sie wissen, dass es in den nächsten zehn, 20 Jahren, hier keine Normalität geben wird. Das ist eine wirkliche Wunde, nicht nur in der Region, sondern in ganz Japan. Unbewusst rumort das in jedem Japaner.
Das Interview führte Carsten Döpp.