DOMRADIO.DE: Haben in der Corona-Pandemie mehr Menschen Kummer als sonst?
Annelie Bracke (Leiterin Katholische Telefonseelsorge Köln): Wir haben immer Menschen mit Kummer und Sorgen am Telefon und haben im letzten Jahr zeitweise mehr Anrufe als sonst registriert. Aber wir haben gemerkt, dass sich die Sorgen und die Nöte, die vorher schon da waren, zugespitzt haben.
Zum Beispiel der ganze Themenbereich Einsamkeit: Schon vorher gab es Menschen, die einsam waren und sehr darunter gelitten haben und das auch jetzt noch tun. Aber es hat sich jetzt zugespitzt, dass selbst das, was man sich im Leben als Kontaktmöglichkeiten geschaffen hat, nun weggebrochen ist. Dazu zählte beispielsweise regelmäßig ins Café um die Ecke zu gehen und da die nette Kellnerin zu kennen. Oder alleinstehende Menschen, die ihre Freunde getroffen haben oder in Sportgruppen oder den Chor gegangen sind, konnten dies nun nicht mehr tun. Das kann sehr bedrückend sein. Und je nachdem, wie es einem innerlich vorher schon ging, wird man dann noch angespannter und trauriger und niedergeschlagener. Das merken wir in den Gesprächen am Telefon.
Eine andere Linie ist aber auch, dass Menschen, die uns vorher vielleicht nicht gebraucht hätten, jetzt anrufen, weil sich durch diese Corona-Ausnahmesituation Probleme überhaupt erst zeigen und ergeben. Es sind nicht immer nur Menschen, die alleine sind und bei uns anrufen. Manchmal kann man auch im Umfeld nicht über das sprechen, was einen gerade so extrem beschäftigt.
Und man darf auch anrufen, wenn man nicht ganz verzweifelt ist. Viele meinen ja, dass es andere schlimmer hätten als man selbst. Aber jeder darf erzählen, wie es ihm geht. Auch der bedrückende, leise Kummer ist da.
DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie den Lebenswillen der Menschen, die bei Ihnen anrufen?
Bracke: Wir führen auch eine Statistik und haben in den Gesprächen subjektiv erlebt, dass es mehr Menschen als vorher gibt, die andeuten oder auch klar sagen, dass ihr Lebenswille schwindet, dass sie Suizidgedanken haben. Es ist nicht immer schon ganz konkret, dass sie kurz vor der Ausführung stehen. Aber es lastet das schwere Gefühl auf ihnen: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, wenn doch ein Ende wäre.
Diese Zahl hat von sieben Prozent der Gespräche im Jahr 2019 auf jetzt 14 Prozent bei uns zugenommen. Das ist schon eine deutliche Steigerung.
DOMRADIO.DE: Sie sind von der Kapazität her gut ausgelastet und brauchen Unterstützung. Wer kann denn da wie helfen?
Bracke: Wir bilden alle, die mitarbeiten möchten, ein Jahr lang gründlich aus. Wir suchen aber auch vorher aus, wenn sich jemand bewirbt, ob aus unserer Sicht die Eignung da ist. Das heißt, wir schauen, ob jemand überhaupt die zeitlichen Kapazitäten hat, ob auch die innere Kraft da ist oder derjenige belastbar ist und sich in andere einfühlen aber auch für seine eigenen Grenzen sorgen kann. Das braucht man auch am Telefon.
Mindestalter ist Mitte 20, nach oben hin ist es offen. Da sollte man aber auch in der Lage sein, Nachtdienste zu machen. Ansonsten erwarten wir keine berufliche oder sonstige Vorbildung. Wir geben ja später dann die Ausbildung und wir ermuntern einfach, dass man sich erst einmal bei uns meldet. Wir gehen dann in einen gemeinsamen Prozess und schauen, ob das was wäre.
Wir schicken dann Infomaterial, wir reden erst einmal informativ über die Rahmenbedingungen und dann gibt es später nochmal ein genaueres Hinschauen von beiden Seiten und immer wieder stufenweise wird gefragt: Passt das zu mir?
DOMRADIO.DE: Können Sie das mit den zeitlichen Kapazitäten kurz umreißen?
Bracke: Wir haben Schichten, die bei uns zum Beispiel tagsüber fünf Stunden und nachts neun Stunden lang sind. Davon macht man etwa zwei pro Monat, also acht Nachtdienste, 16 Tagdienste. Die kann man selbst einteilen. Dazu kommt noch regelmäßig die unterstützende Gruppe, also die Supervision und Fortbildungen.
Wenn man das jetzt alles zusammenrechnet, dann sind das im Schnitt etwa 14 Stunden im Monat. Aber man kann sich das einteilen, wenn man gerade mal eine schwere berufliche Phase hat oder gerade, wenn man wieder reisen kann und unterwegs ist.
DOMRADIO.DE: Ein Jahr dauert so eine Ausbildung. Was lernt man da?
Bracke: Für manche ist erstaunlicherweise das erste, was man lernt, nicht eine Gesprächstechnik oder wie man dem anderen Menschen hilft, sondern sich selbst besser wahrzunehmen. Das nennen wir dann Selbsterfahrung an Themen, die auch am Telefon relevant sind.
Die großen Lebensthemen, eigene Partnerschaftserfahrungen, eigene Krisenerfahrungen, der eigene Glaube, Spiritualität oder die Suche oder die Brüche, die es dort gibt oder Fragen, warum man überhaupt helfen will und welche biografische Erfahrung man damit hat, schauen wir uns bei uns selber an. Dann in der Gruppe mit zwölf Teilnehmern hört man auch von anderen viel und kann schon mal üben, wie man nachfragt, wie man ein Feedback gibt. Das ist der erste große Schritt.
Dann geht es in einem zweiten Abschnitt nach einem halben Jahr ans Telefon. Man hört erst neben einem erfahrenen Mitarbeiter zu, dann telefoniert man selber, aber auch neben jemand Erfahrenem. Und dann lernt man auch Gesprächstechniken für das helfende Gespräch und einige Grundkenntnisse, die man noch für die Arbeit braucht.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.