DOMRADIO.DE: Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie nicht Aufklärer genannt werden möchten. Warum eigentlich? Sie haben doch damals den Stein zur Aufklärung ins Rollen gebracht.
Pater Klaus Mertes (ehem. Leiter des Berliner Canisius Kollegs): Ja, mein Handeln hatte aufklärende Wirkung. Aber man muss sich über seine Rolle im Klaren sein. Das ist eines der Grundprobleme bei der ganzen Aufarbeitung der letzten Jahre. Ich bin als Vertreter der Institution immer auch zugleich Gegenstand der Aufklärung und deswegen kann ich nicht einfach Aufklärer sein. Aufklärung muss unabhängig laufen.
DOMRADIO.DE: Sie sind immer wieder auch als Nestbeschmutzer beschimpft worden. Sie haben sogar Morddrohungen bekommen. Wie gehen Sie damit um?
Mertes: An mir abprallen lassen. Ganz einfach, weil es Quatsch ist.
DOMRADIO.DE: Lässt Sie der Umgang der Kirche mit dem Missbrauch manchmal verzweifeln?
Mertes: Nein, das lässt mich nicht verzweifeln. Aber es zeigt eben, wie viele Leute damit anfangen, sich mit diesem zu befassen. Nicht nur Bischöfe, sondern auch die Öffentlichkeit. Und letztlich nicht kapieren, wie unglaublich komplex Aufarbeitung ist.
Das ist nicht nur eine Frage des guten Willens. Es geht um die Fragen der Rollendefinition, des Selbstverständnisses, der Strategie und der eigentlichen Absichten, die hinter der Aufarbeitung stehen. Und die sind manchmal nicht klar.
DOMRADIO.DE: Es geht natürlich auch um Strukturen und Glaubensgrundsätze der katholischen Kirche. Sie haben auch immer wieder die Sexualmoral der katholischen Kirche kritisiert. Wie erleben Sie da jetzt zum Beispiel diese Stellungnahme aus Rom, die Priestern verbietet, homosexuelle Partner zu segnen?
Mertes: Da sind wir schon weit weg vom Thema. Das Thema bei der Aufarbeitung ist die Gerechtigkeit für die Betroffenen, nicht die Sexualmoral. Natürlich gibt es Zusammenhänge zur Sexualmoral, die begünstigend wirken. Aber das ist nicht das primäre Thema der Aufarbeitung. Von der Erklärung, die aus Rom gekommen ist, halte ich überhaupt nichts. Sie ist vollkommen lebensfremd.
DOMRADIO.DE: Sie haben natürlich recht, für die, die schon Opfer geworden sind, ist es vielleicht nicht mehr das Thema. Aber vielleicht geht ja da um Prävention.
Mertes: Ja, aber auch die Präventionsfrage muss eingeordnet werden. Wenn die Kirche sofort über Prävention spricht, erleben das viele Opfer schon als Abwendung von ihren Fragen. Da geht es um die Frage nach der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Anerkennung der Wahrheit, ihrer Geschichte, dem Verfahren, mit dem die Gerechtigkeit überhaupt hergestellt werden kann und Entschädigungsfragen. Das sind die Fragen, die sie beschäftigen.
Schon zwei Tage nach meinem Brief, den ich damals an ehemalige Schüler des Kollegs schrieb, diskutierte Frau Illner schon über den Zölibat. Das ist einfach die falsche Reihenfolge. Natürlich sind das auch präventionsrelevante Fragestellungen, nur für die Aufarbeitung ist zunächst einmal die Gerechtigkeit für die Betroffenen entscheidend und die ist unabhängig davon zu beantworten, ob im Laufe der nächsten Jahre der Zölibat abgeschafft wird oder Frauen zum Priester geweiht werden, selbst wenn ich beides befürworte.
DOMRADIO.DE: Auf jeden Fall ist der Umgang mit sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche für ganz viele Gläubige der Grund, warum sie die Kirche verlassen. Die Kirche steckt tatsächlich in einer tiefen Krise und das hat auch viel mit diesem Skandal zu tun. Wie soll das weitergehen? Wie sehen Sie da die Zukunft der Kirche?
Mertes: Die Zukunft der Kirche sehe ich so, dass sie bei der Aufarbeitung des Missbrauchs ganz klar im Kopf haben muss, dass es nicht darum geht möglichst viele Leute in der katholischen Kirche zu halten und deswegen aufzuklären.
Es geht um die Betroffenen und es geht um die Gerechtigkeit für die Betroffenen. Wenn man immer wieder die Eigeninteressen der Institution in den Vordergrund stellt, auch die eigene Angst davor, weitere Mitglieder zu verlieren, dann wird man in der Aufarbeitung nicht weiterkommen.
DOMRADIO.DE: Sehen Sie denn, dass die Betroffenen sich emanzipiert haben in diesem vergangenen Jahrzehnt, dass da was in Bewegung gekommen ist, was nicht mehr gestoppt werden kann?
Mertes: Es gibt nicht "die Betroffenen". Was es aber in den letzten Jahren gibt - und das ist eines der großen Ereignisse seit 2010, mit dem ich in dieser Form gar nicht gerechnet hatte - ist, dass Betroffene sprechen und das ist die große Befreiung.
Matthias Katsch, mit dem ich zusammen geehrt werde, hat genau das zum Thema gemacht. Die befreiende Erfahrung des öffentlich Sprechenkönnens. Und das ist in den letzten zehn Jahren geschehen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.