Norbert Lammert hat Verständnis für Menschen, die sich fragen, warum Entscheidungen in der Coronakrise nicht durch das Parlament getroffen werden, sondern durch eine "Generalermächtigung der Exekutive".
"Niemand könnte den Bundestag oder die Landtage daran hindern, diese Entscheidungen selber herbeizuführen, wann immer sie es für richtig halten", sagte er am Mittwochabend beim online durchgeführten Augustinergespräch der Konrad-Adenauer-Stiftung Thüringen.
Nach der erstmaligen Inanspruchnahme des Infektionsschutzgesetzes, spätestens aber bei der Novellierung wäre es, so Lammert weiter, "nicht nur denkbar, sondern auch naheliegend gewesen, eine Reihe der Abwägungsentscheidungen nicht auf dem Ermächtigungswege den Bundes- und Landesregierungen zu überlassen, sondern diese Abwägungen selber vorzunehmen und per Gesetz zu regeln".
Erinnerung an Martin Luthers Auftritt in Worms 1521
Gemeinsam mit dem Vizepräsidenten des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Thies Gundlach, erinnerte er in einem digitalen Erfurter "Augustinergespräch" an den Auftritt Martin Luthers (1483-1546) in Worms am 18. April 1521. Wenige Tage zuvor hatte der Reformator auf seiner Reise zum Reichstag in Erfurt Station gemacht und dort am 7. April auch eine Predigt gehalten.
Lammert, Vorsitzender der mitveranstaltenden CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, und der Theologe Gundlach würdigten in ihren Eröffnungsstatements die Weigerung des Reformators zum Widerruf seiner Lehren vor Kaiser Karl V. (1500-1558). Auch wenn die Worte "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders" wahrscheinlich so nicht gefallen seien, habe Luther mit Verweis auf sein Gewissen als Einzelner den Autoritäten seiner Zeit getrotzt.
Befreiungsschlag für den Reformator
Gundlach sagte, die "Wormser Erzählung" habe eine "historische Kraft" ausgelöst, hinter der das tatsächliche Geschehen auf dem Reichstag zurücktrete und die weit über das hinausgehe, was Luther wollte. Dennoch habe es sich um einen Befreiungsschlag für den Reformator gehandelt, der seine innere Welt von den äußeren Einflüssen befreit habe. Leider hätten sich diese Haltung auch Ideologen und Verschwörungserzähler als "Einsichtsverweigerung" zu eigen gemacht.
Parallelen zu Gewissenentscheidungen in der heutigen Zeit
In ihrem Gespräch, zu dem Lammert aus Ostwestfalen und Gundlach aus Berlin zugeschaltet waren, zogen der Politiker und der Theologe Parallelen zu Geisteshaltungen und Gewissenentscheidungen in der heutigen Zeit. Der Katholik Lammert hob dabei hervor, dass letztlich jeder und jede Abgeordnete für sein und ihr Abstimmungsverhalten selbst verantwortlich sei. Es sei Verfassungsnorm und -realität, dass man sich frei entscheiden könne. Allerdings müsse ein Abgeordneter aber auch - anders als bei Entscheidungen als Privatmensch - als gewählter Repräsentant dafür Rechenschaft ablegen.
Gundlach warnte vor einer ritualisierten Gewissensfreiheit. Oft würden Konflikte vermieden, um dem Gegenüber ein "gutes Gewissen" zu ermöglichen. "Heute braucht man nur eine Peergroup, die einen in der Urteilsbildung bestärkt. Jede Bubble, jede Internetblase kann sich gegenseitig ein gutes Gewissen machen - es gibt so etwas wie eine Pandemie der reinen Gewissen." Das menschliche Gewissen sei oft auch "korrumpiert, bestechlich und anschmiegbar an das, was erwartet wird."
Lammert wiederum nannte die Gewissensfreiheit eine "vergleichsweise preiswerte Fahne, die man vor sich her schwenkt, um nicht nur für das Recht auf eine eigene Meinung einzutreten, sondern auch um die eigene Meinung für die einzig richtige zu erklären". Am Rande der Debatte verwies Gundlach auch darauf, wie das Gewissen zuweilen in kirchlichen Debatten benutzt werde: "Hat unsere protestantische Kirche nicht viel zu viele mittelkleine Luthers, die dazu führen, dass wir eine kaum steuerbare Kirche sind, weil jeder glaubt: Hier stehe ich und kann nicht anders?"
Fähigkeit sich selbst zu relativieren
Anders als vor 500 Jahren werde Gott selbst heute oft infrage gestellt. Aber wo Gott sei, hielten die Menschen sich nicht selbst dafür, erklärte Gundlach. Lammert sprach von der Fähigkeit, sich selbst relativieren zu können.
Von den Erfurter Protestanten wird der dreitägige Aufenthalt und die Predigt Luthers am 7. April 1521 als die Geburtsstunde ihrer Kirche angesehen. Eine Projekt- und Veranstaltungsreihe "500 Jahre Evangelisch in Erfurt", für die das "Augustinergespräch" mit Lammert und Gundlach den Auftakt bildete, soll in den kommenden zehn Jahren an die historischen Höhepunkte der Reformation in der heutigen Thüringer Landeshauptstadt erinnern.