DOMRADIO.DE: In großen deutschen Tageszeitungen und Online-Portalen waren am Wochenende zum Teil ganzseitige Anzeigen zu sehen, mit der Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, mit Photoshop in biblische Gewänder gehüllt wie Moses, und dem Slogan "Wir brauchen keine Staatsreligion". In der Hand hält Baerbock Steintafeln voller vermeintlicher Verbote. Das Ganze ist eine Kampagne der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die damit pünktlich zum Parteitag am vergangenen Wochenende die Grünen als Verbotspartei diskreditieren will. Herr Hemel, finden Sie die Anzeige gelungen?
Ulrich Hemel (Vorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU): Sie ist gar nicht gelungen, aber sie erregt Aufmerksamkeit. Sie ist deswegen nicht gelungen, weil sie an zwei Punkten problematisch ist. Das eine ist die Verwendung religiöser Symbole im politischen Wahlkampf zur Bundestagswahl und das andere ist die Frage der sozialen Marktwirtschaft. Nicht überall, wo soziale Marktwirtschaft draufsteht, ist eben auch soziale Marktwirtschaft drin.
DOMRADIO.DE: Für Juden und Christen sind Moses und seine zehn Gebote die wichtigsten Leitlinien für das menschliche Zusammenleben. Ist es nicht auch eine Herabsetzung eines wichtigen religiösen Symbols, wenn es jemanden darstellt, der einfach alles verbietet?
Hemel: Es war ja auch nicht so. Es sind Gebote zur Gestaltung des Zusammenlebens und nicht Verbote. Insofern ist hier die Aussageabsicht jedenfalls nicht die biblische.
DOMRADIO.DE: Die INSM versteht sich als Lobbygruppe für Arbeitgeberinteressen. Distanzieren Sie sich als Bund Katholischer Unternehmer jetzt von dieser Kampagne?
Hemel: Von der Kampagne können wir uns leicht distanzieren. Arbeitgeberinteressen vertreten wir natürlich schon auch, denn wir sind der Bund Katholischer Unternehmer und Unternehmerinnen. Und das bedeutet schon, dass wir diese Brille aufhaben. Genau deswegen sagen wir aber: Was hier gemacht worden ist, ist vielleicht doch eine etwas einseitige Brille. Nämlich so, als ob soziale Marktwirtschaft nur Arbeitgeberinteresse wäre. Das ist nämlich nicht so.
Soziale Marktwirtschaft ist am Ende ein gesellschaftliches Friedensprojekt, dass Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen genauso zugutekommt. Denn soziale Marktwirtschaft heißt ja: Wir suchen die beste Lösung im Wettbewerb. Aber wir haben eben auch soziale Mindeststandards. Und dieses Verständnis von sozialer Marktwirtschaft im umfassenden Sinn, das vermisse ich.
DOMRADIO.DE: Die INSM sagt von sich selbst, sie setze sich für soziale Marktwirtschaft ein. Sie haben das Wort gerade schon angesprochen. Und die INSM befürchtet, dass die Grünen uns vorschreiben, wie wir in Zukunft fahren, reisen, essen und wohnen sollen. Teilen Sie die Kritik der Initiative denn?
Hemel: Natürlich kann man drüber diskutieren, ob eine Partei sich stärker über Verbote oder über Gestaltungsmaßnahmen definiert. Das ist aber Teil des politischen Wettbewerbs und wir als BKU haben uns immer für Technologie-offene Lösungen eingesetzt - auch beim Thema Nachhaltigkeit. Aber es ist ja nun völlig klar: Nachhaltigkeit ist in der Zwischenzeit eine gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe und nicht mehr die Alleinstellung einer einzigen Partei.
DOMRADIO.DE: Schauen wir nochmal ein bisschen genauer auf den Wortlaut. Wenn die INSM behauptet, die Grünen wollen uns das Fliegen verbieten, dann entspricht das ja nicht der Wahrheit. Die Grünen sagen, sie wollen das Schienennetz so ausbauen, dass Zugfahren künftig zum Beispiel attraktiver wird als Fliegen innerhalb Deutschlands. Wird hier nicht bewusst ein bisschen mit Falschinformationen Hetze betrieben.
Hemel: Das Wort Hetze finde ich an der Stelle nicht richtig. Und das Wort Falschinformationen auch nicht ganz, denn wir haben eben einen lebendigen und auch kontroversen Diskurs. Und sie werden bei den Grünen, aber auch in anderen Parteien, sicher Personen finden, die sagen: Fliegen sollte man grundsätzlich verbieten, zumindest Kurzstreckenflüge.
Im Parteiprogramm bei den Grünen steht das nicht. Deswegen muss man schon genau hinschauen und sagen: Was soll denn eigentlich gemacht werden? Und im Übrigen gibt es auch hier technologische Möglichkeiten. Denken Sie an synthetische Kraftstoffe, denken Sie an neuere andere Ansätze. Also, da sollte man, finde ich differenziert hinschauen und nicht die große Keule schwingen.
Das Interview führte Michelle Olion.