Rolland Slate hat sich festgelegt. Die jahrelangen Vorwürfe wegen Belästigung, sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und Vergewaltigung erwachsener Frauen in der konservativen Southern Baptist Convention (SBC), der größten protestantischen Kirche der USA, sollen untersucht werden. Und zwar durch eine externe, also unabhängige Kommission.
Slate ist nicht irgendwer in der SBC. Er ist Vorsitzender des Exekutivausschusses des Gemeindeverbunds mit 14 Millionen Mitgliedern und 47.000 Gemeinden. Slate schließt sich damit anderen Pastoren an, die eine interne Untersuchung für ungenügend halten. "Es ist nie der falsche Zeitpunkt, das Richtige zu tun", begründete er seine Forderung unmittelbar vor dem Jahrestreffen der SBC am Dienstag und Mittwoch in Nashville, Tennessee.
Schonungslose Abrechnung in Briefen
Die Missbrauchs-Vorwürfe sind seit 2019 bekannt und vom "Houston Chronicle" akribisch belegt. Die Recherche konfrontierte 380 leitende Baptisten und Freiwillige mit sexuellen Vorwürfen. Allein in den letzten 20 Jahren zählte die Zeitung mehr als 700 Missbrauchsbetroffene. Am Pranger steht das SBC-Führungspersonal, insbesondere der Exekutivausschuss. Eine gewählte Gruppe von 86 Vorderen, die das operative Geschäft zwischen den Jahreshauptversammlungen leiten.
Unmittelbarer Auslöser für die aufgeflammte Diskussion um sexuelle Straftaten und den Umgang der Kirche damit sind Briefe des zurückgetretenen Leiters der Ethikkommission, Russell Moore, die Anfang des Monats durchsickerten. Moore verfasste darin bereits im Frühjahr, als er noch den politischen Arm der SBC leitete, eine schonungslose Abrechnung, die sich wie eine Anklageschrift liest. Er wirft der Kirchenführung unter anderem vor, reihenweise Missbrauchsfälle vertuscht zu haben.
Glaubwürdigkeit hat Schaden genommen
Die kurz vor dem Jahrestreffen an die Öffentlichkeit gelangten Schreiben wirkten wie eine Handgranate. Ankläger Moore werde von den einen als "Unruhestifter", von anderen als "Prophet in einer Zeit der Finsternis" gesehen, brachte die "Washington Post" die Stimmung unter SBC-Mitgliedern auf den Punkt.
Für die 16.000 Delegierten in Nashville geht es um nicht weniger als die Zukunft ihrer Kirche, deren Glaubwürdigkeit schweren Schaden genommen hat.
Offener Kampf droht
Beim Jahrestreffen droht ein offener Kampf zwischen Reformern und Ultra-Konservativen. Letztere haben schon seit Wochen unter dem Slogan "Take the Ship" die Führung der Kirche für sich beansprucht. Die "New York Times" erwartet bei den sonst eher friedlichen "Familientreffen" einen harten Schlagabtausch.
Ob sich die als "Piraten" beschimpften Reformer durchsetzen oder die Hardliner der von weißen Männern dominierten Kirche, entscheidet sich bei der Präsidentenwahl. Mike Stone, ein Pastor aus Georgia, ist der Favorit der Konservativen. Moores Briefe seien "aufrührerisch" und der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Versuch, die Wahl zu beeinflussen.
Weitere Kritikpunkte
Dabei zielt die Kritik von Moore nicht nur auf den Missbrauch. Er hält der SBC-Spitze auch die unkritische Gefolgschaft gegenüber Donald Trump vor, was die Spaltungstendenzen unter den Mitgliedern verschärft habe.
Hinzu kommt das Anprangern eines latenten bis offenen Rassismus in der Kirche, die ihre Gründung der Sklaverei und dem Streben nach Apartheid verdankt. Als Moore 2011 einen möglichen künftigen "afroamerikanischen SBC-Präsidenten" ins Spiel brachte, sei er mit ständigen Drohungen weißer Extremisten auch innerhalb der SBC konfrontiert gewesen.
Auf dem Prüfstand steht auch das Frauenbild der Evangelikalen. Beth Moore, nicht verwandt mit dem ehemaligen Chef der Ethikkommission, eine populäre Predigerin und Ikone unter Southern Bapists, entschuldigte sich im März nach ihrem Rücktritt für ihre jahrelange Unterstützung der männlichen Vorherrschaft innerhalb der SBC. Die als Komplementarismus bekannte Lehre verlangt die Unterwerfung der Frau und ist besonders unter Evangelikalen weit verbreitet.
Mehr als 400.000 Austritte seit 2020
All das hat zum Mitgliederschwund beigetragen. Die Kirche hat in den vergangenen 15 Jahren rund zwei Millionen Gläubige verloren; von allein 435.000 Austritten seit 2020 berichtete vor Kurzem der "Religion News Service". Vor allem junge Southern Baptists wenden sich seit Jahren von ihrer Kirche ab.
Als Hauptgrund sehen Experten den Verlust der Vorbildfunktion der protestantischen Elite. Die Jungen sehen ihre "Moralapostel" als Täter. "Nicht weil sie nicht glauben, was die Kirche lehrt", so Moore, "sondern weil sie glauben, dass die Kirche selbst nicht glaubt, was die Kirche lehrt".