Von einer "quälend langsamen Aufdeckung und Aufarbeitung abscheulicher Verbrechen an den Schwächsten unter uns, an Kindern und Jugendlichen" sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zuletzt beim 3. Ökumenischen Kirchentag im Mai. Diese Verbrechen seien in den Kirchen lange Zeit vergessen oder verschwiegen worden.
Mehr gesamtgesellschaftliche Anstrengungen gefordert
Bei seiner Rede beim Empfang des Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kinder und Jugendlichen am Mittwoch im Schloss Bellevue wurde Steinmeier grundsätzlicher und forderte mehr gesamtgesellschaftliche Anstrengungen: Der Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei "eine moralische und politische Pflicht". Staat und Gesellschaft stünden in der Verantwortung. Der Bundespräsident: "Es geht darum, Jungen und Mädchen an allen Orten zu schützen und Übergriffe zu verhindern. Es geht darum, Missbrauch da, wo er geschieht, so früh wie möglich aufzudecken und zu beenden. Und es geht darum, den Menschen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, zu helfen und ihr Leid anzuerkennen."
Der Nationale Rat, der aus 40 Spitzenvertreter aus Politik und Zivilgesellschaft besteht, hatte zuvor konkrete Handlungsempfehlungen vorgelegt. Ziel der darin enthaltenen Maßnahmen soll es demnach sein, Schutz und Hilfen bei sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu verbessern, kindgerechte Gerichtsverfahren zu gewährleisten und die Forschung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt weiter voranzubringen.
Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, die dem Gremium vorstehen, hatten dazu aufgerufen, den Maßnahmenkatalog zum Grundstein für einen nationalen Pakt gegen sexualisierte Gewalt werden zu lassen. Es komme jetzt darauf an, die Maßnahmen umzusetzen.
Steinmeier hatten sie bei dem Aufbruch auf ihrer Seite. Er hat die Bekämpfung von Missbrauch zu einem Kernthema seiner Amtszeit gemacht: Bereits 2018 empfing er die von Rörig eingesetzte unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von Missbrauch. Im vergangenen April zeichnete er den Sprecher des Eckigen Tisches, Matthias Katsch, und Jesuitenpater Klaus Mertes, die den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche 2010 öffentlich gemacht hatten, mit dem Bundesverdienstkreuz aus und im Juni traf er sich mit Betroffenen von Missbrauch zu einem Gespräch in Berlin.
Im Schloss Bellevue rief er Politik und Gesellschaft nun zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung auf. Es sei trotz vieler Maßnahmen bislang nicht gelungen, das unvorstellbare Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen zu verringern. Das Gegenteil sei der Fall: "Die Zahl der Missbrauchsdarstellungen im Netz explodiert, die digitalen Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger."
Geschlossene Einrichtungen, Männerbünde
Und der Bundespräsident wies darauf hin, dass es immer noch Strukturen gebe, die sexualisierte Gewalt möglich machten und Missbrauch begünstigten. Sie seien an vielen Orten vorhanden - "in kirchlichen und staatlichen Institutionen, in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, in Sportvereinen, Chören und Orchestern".
Geschlossene Einrichtungen, Männerbünde, undurchsichtige, hierarchische Strukturen, eine falsch verstandene Loyalität, die Taten vertusche, um den guten Ruf der Institution zu wahren, all das sei längst noch nicht überwunden, so der Bundespräsident.
Er rief die Gesellschaft auf, besser hinzuschauen. Es gebe immer noch Menschen, die die Augen vor dem Schmerz und der Not der Opfer verschlössen, die sexuellen Missbrauch bagatellisierten und verharmlosten. Was Missbrauch tatsächlich für die Opfer bedeuten könne, habe ihm ein Betroffener erzählt. Dieser meinte, es sei "jeden Tag aufs Neue mit sich zu verhandeln, ob man dieses Leben noch will, ob man die Kraft hat, so zu tun, als sei man ein ganz normaler Mensch".
Er wünsche sich, so Steinmeier, dass "wir in unserem Land geschlossen an der Seite der vielen Menschen stehen, die in Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erlitten haben. Wenden wir uns ihnen zu, nehmen wir Anteil an ihrem Leid. Lassen wir sie nicht allein in ihrer Not und ihrer Verzweiflung!"