DOMRADIO.DE: Was ist der Hintergrund der Taliban?
Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie, Münster): Der Hintergrund der Taliban begann schon in den 80er Jahren. Damals im Krieg gegen die Sowjetunion. Damals sprach man noch nicht von Taliban, sondern von den Mujahedin. Die "Krieger im Namen Gottes", im sogenannten "Heiligen Krieg" gegen die Sowjetunion. Die Überzeugung dieser Mujahedin ist die wahhabitische Ideologie, die aus Saudi Arabien kam. Und sie genossen auch große Unterstützung des Saudis im Hintergrund, der Amerikaner mit vielen Waffen damals. Vielen Übungslagern auch und somit haben sie den Krieg gewonnen gegen die Sowjetunion.
Aus diesen Mujahedin gab es dann eine Abspaltung, die Mitte der 90er Jahre zu den Taliban geworden sind. Taliban ist ein arabisches Wort und bedeutet "die nach religiösem Wissen Suchenden". Sie verstanden sich als Gelehrte, die den wahren Islam für sich gefunden haben. Und sie glaubten daran, dass der Islam, sprich die Scharia, die einzig gültige Gesellschaftsordnung sei. Das ist Gottes Gesetz und die Aufgabe der Taliban sei es, einen Staat in Afghanistan zu errichten, entsprechend diesem Gottesgesetz, der Scharia.
Und so haben sie im Jahre 1996, damals gewaltsam auch Afghanistan für sich erobert und regiert bis 2001.
DOMRADIO.DE: Was macht diese wahhabitische Idiologie aus?
Khorchide: Die wahhabitische Ideologie ist ein sehr restriktives Verständnis vom Islam. Das, was wir heute unter Salafismus verstehen, wobei der Salafismus auch Abstufungen hat. Bei den Taliban geht es um einen dschihadistischen Salafismus, also Salafismus, der sich militant durchsetzen will, mit Mitteln der Gewalt, mit Mitteln des Krieges.
Das hat viele Menschen damals abgeschreckt, auch in Afghanistan. Warum das Volk auch damals einfach resignierend auch mitgemacht hat, aus Angst und Panik, weil viele auch mit Gewalt zu Gehorsam, zur Unterwerfung vor dem Taliban-Regime gedrängt und gezwungen wurden.
DOMRADIO.DE: Nun versuchen die Taliban ja den Eindruck zu erwecken, sie seien heute gemäßigter, und würden auch Frauen mehr Rechte zugestehen, als in den 90er Jahren. Haben sich die Taliban geändert?
Khorchide: Heute versuchen die Taliban den Staat Afghanistan zu regieren. Dabei sind sie heute angewiesen auf ausländische Unterstützung. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder dieser Welt. Ein Land, das sehr stark angewiesen ist auf finanzielle Unterstützung von außen. Das wissen auch die Taliban. Und sie wissen auch, dass sie sich selbst über viele Jahre über Drogenhandel vor allem finanziert haben. Und das können sie sich nicht weiter so leisten, als offizielle Regierung.
Sie sind angewiesen auf Unterstützung von außen und das ist auch ein Druckmittel. Deshalb versuchen die Taliban jetzt auch sich nach außen gemäßigt zu zeigen. Ob das jetzt eine vorübergehende Taktik, ein Kalkül ist, was sich dann in den nächsten Wochen oder Monaten ändert, das wird die Zeit uns zeigen.
Ich gehe stark davon aus, dass sie ein Interesse daran haben, für die Stabilität Ihres Regimes zu sorgen. Dafür brauchen sie die Unterstützung des Volkes und die Anerkennung im Volk selbst. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich die Taliban auch im eigenen Sinne - nicht freiwillig, aber alleine aus diesen opportunistischen Gründen, um stabil an der Macht zu bleiben -, sich weiterhin als in deren Verhältnissen gemäßigt zeigen werden. Was aber weit entfernt ist von demokratischen Grundwerten.
DOMRADIO.DE: Das oberste Gesetz für die Taliban ist die Scharia. Was man als Scharia definiert, ist aber eine Auslegungssache. Wie sehen das die Taliban?
Khorchide: Grundsätzlich muss man sagen, dass das Wort Scharia, so wie wir das heute verstehen, im Koran nicht vorkommt. Scharia ist nichts anderes als die Summe der Interpretationen, der Auslegungen der Gelehrten, wie sie im jeweiligen Kontext den Islam verstehen. Die Taliban haben in den 90er Jahren den Islam auf eine sehr restriktive Art und Weise verstanden, im salafistischen Sinne, wo sie damals sogar Musik oder Fernsehen verboten haben, Frauen verboten haben, an Bildungsinstitutionen, am Arbeitsmarkt teilzunehmen und vieles mehr.
Heute sagen die Taliban, Frauen bekämen ihre Rechte im Rahmen der Scharia. Da ist die große Frage: Was verstehen Taliban heute unter Scharia? Es gibt ja Hinweise darauf, dass sie sich weiterentwickelt haben in ihrem Denken.
Beispiel: In diesen Tagen trat ein Sprecher der Taliban vor die Presse und sagte: "Unser Gelehrten-Rat wird über die Frage der Verschleierung entscheiden. Ob die Burka wieder eingeführt wird oder eine Kopfbedeckung reicht." Allein, dass das keine entschiedene Sache ist und die Taliban selber sagen, sie wollten darüber diskutieren, das zeigt schon, dass sie offen sind für eine gewisse Dynamik. Natürlich alles nur mit Vorsicht zu genießen, da darf man sich nicht sehr viel erhoffen. Zum Bespiel, dass es Gleichberechtigung von Mann und Frau oder demokratische Grundwerte geben wird. In Gegenteil. Da haben die Taliban ganz klar gesagt: "Wir sind nicht offen für eine Demokratie. Das widerspricht unserem Verständnis von Scharia."
DOMRADIO.DE: Sie erwarten also eine gewisse Mäßigung, schon aus Pragmatismus. Es gibt aber auch viele Stimmen vor Ort, die das nicht glauben, die das nur als vorgeschobene Argumentation betrachten, um Respekt vom Westen zu bekommen. Inwiefern kann man diesen Versprechungen denn glauben?
Khorchide: Die Taliban haben in den letzten 20 Jahren viel dazugelernt, vor allem, wie sie staatsmännisch politisch auftreten vor der Welt. Allein, dass sie inzwischen einen Sprecher haben, der auch Termini verwendet, die man hier im Westen versteht, nachvollzieht. Das zeigt ja, dass sie allein aus pragmatischen und opportunistischen Gründen eine gewisse Politik jetzt vertreten werden. Womöglich nicht aus Überzeugung, aber allein aus pragmatischen Gründen, weil sie wissen, dass sie angewiesen sind auf die finanzielle Unterstützung des Westens. Das heißt, diese skeptische Sicht, die meint, das sei alles nur ein Kalkül, bald werde sich vieles verändern, teile ich jetzt so nicht. Die Taliban sind auch langfristig angewiesen auf die finanzielle, wirtschaftliche Unterstützung des Westens. Sie wollen diese Anerkennung auch von westlichen Staaten. Das heißt, sie sind auch langfristig gezwungen, sich gemäßigt zu zeigen, was dazu führen könnte - und das ist auch stark zu erwarten -, dass Spaltungen innerhalb der Bewegung stattfinden werden. Dass einige Hardliner meinen, dass sie zu viel Kompromisse eingehen gegenüber dem Westen und dass sie wiederum versuchen, dann gegen die Taliban selbst zu kämpfen, was wiederum zu gespaltenen Lagern innerhalb der Taliban führen wird. Die, die an der Regierung bleiben, werden dann die eher Gemäßigteren sein und andere zeigen sich als Hardliner.
Ich sehe momentan keinen Ausweg, außer dass Afghanistan diesen Prozess durchmachen muss, um sich von innen, von unten, in der Gesellschaft weiterzuentwickeln. Die letzten 20 Jahre haben gezeigt, dass eine aufgesetzte Demokratisierung von oben nicht funktioniert. Das hat auch die Erfahrung im Irak, auch in Libyen jetzt gezeigt und nun auch in Afghanistan. Das heißt, eine Veränderung muss getragen werden vom Volk. Es gibt ja diese große Enttäuschung jetzt, wo viele sich fragen, wieso das Volk nichts unternommen hat, als die Taliban einmarschiert sind. Wir reden von etwa vierzig Millionen Afghanen und 60.000 Taliban! Das bedeutet, dass in den letzten 20 Jahren sehr viel, viel zu viel investiert wurde in Krieg, in Waffen, aber sehr wenig in den Menschen, in deren Selbstbestimmung, in Aufklärung, in Bildung. Und diesen Prozess müssen jetzt die Afghanen selbst in die Hand nehmen, damit Widerstände auch in der Bevölkerung selbst stattfinden.
DOMRADIO.DE: Heißt das denn, es gibt in gewissem Sinne einen Rückhalt im Volk? Wenn der nicht dagewesen wäre, hätte es auch da mehr Protest von Seiten der Afghanen gegeben?
Khorchide: Ich sehe keinen breiten Rückhalt im Volk, sondern eine große Resignation, Panik und Angst. Die meisten Afghanen heute haben die Taliban in den 90er Jahren auch erlebt und deren Grausamkeiten damals, wo sie mit Gewalt und Folter regiert haben. Zehntausende Zivilisten wurden umgebracht damals. Diese Bilder sind noch stark präsent im kollektiven Gedächtnis der Afghanen.
Man hat es ja gesehen. Allein als angekündigt wurde, die Taliban seien in der Nähe von Kabul, haben Geschäftsleute angefangen, Bilder von Frauen zu übermalen oder abzunehmen aus Panik und Angst vor den Taliban. Selbstzensur. Diese Angst, diese Panik hat das Volk lahmgelegt, sodass man resignierend einfach hingenommen hat, dass die Taliban jetzt die Macht haben. Und man hofft nur, dass man davonkommt, dass man nicht bestraft wird von den Taliban. Diese unglaublich passive Haltung im Volk basiert nicht auf Akzeptanz, sondern eher auf Resignation und Angst. Das zeugt davon, dass die Menschen noch weit entfernt sind, sich als selbstbestimmte, mündige Wesen wahrzunehmen, die ihre Stimme erheben, ihr Nein ganz laut auszusprechen. Und das zeugt auch davon, wie wichtig es ist, in den nächsten Jahren viel in Bildung, in Aufklärung, in Demokratiebildung zu investieren.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.