"In Zeiten von Furcht und Ängsten blüht das Geschäft von Verführern und Populisten", sagte er am Mittwochabend im Sankt-Paulus-Dom in Münster. In allen europäischen Ländern gebe es inzwischen Bewegungen, die vorgäben, den Willen des Volkes zu vertreten. In Wirklichkeit repräsentierten sie aber nur ein Viertel oder Fünftel der Bevölkerung.
"Die bürgerliche Mitte darf sich nicht zu früh ins Bockshorn jagen lassen." Wenn vor allem im Netz Ressentiment, Hass und Verdruss an der Demokratie vorangetrieben würden, dürfe nicht geschwiegen werden.
Die Skepsis gegenüber der Demokratie sei gewachsen, ihre Strahlkraft habe abgenommen, stellte der frühere evangelische Pastor fest. Weltweit sei "die Mechanik eines zu schnellen und umfassenden Wandels" zu beobachten, der Gewinner und Verlierer schaffe und bei vielen Angst hervorrufe.
Die Demokratie sei nicht automatisch davor geschützt, sogar von einer rechtmäßig gewählten Regierung untergraben zu werden, mahnte Gauck.
Deswegen müsse immer geprüft werden, inwieweit Einschränkungen der Freiheit der jeweiligen Lage angemessen seien. Pluralismus und öffentlicher Meinungsstreit seien für die liberale Demokratie überlebenswichtig. "Verschiedene Gruppen müssen ausreichend berücksichtigt werden, Einheit in der Vielfalt ist gefragt", sagte er. "Nur mit Toleranz wird es gelingen, die Gesellschaft nicht auseinanderdriften zu lassen."
Gauck fordert belastbare Strategien nach Afghanistan
Weiter hat Gauck den Rückzug der Nato aus Afghanistan als tiefe Zäsur bezeichnet. "Die bittere Lehre ist: Wenn die Bedingungen nicht gegeben sind, lässt sich die Staatlichkeit mit westlichem Militär nicht einfach sichern", betonte Gauck. "Das Afghanistan von 2001 ist nicht das Deutschland von 1945." In Zukunft werde der Westen seine Kräfte sinnvoller einsetzen und demokratiefeindliche Bestrebungen anders bekämpfen müssen als bisher, forderte Gauck. Eine entschiedene Terrorbekämpfung bleibe dennoch eine wichtige Aufgabe.
Gauck kritisierte die Bundesregierung, weil sie es nicht vermocht habe, alle Ortskräfte, die den Deutschen geholfen hätten, in Sicherheit zu bringen. Zugleich lobte er die Bundeswehr für ihre Evakuierungsaktion. "Das chaotische und demütigende Ende ist die bittere Konsequenz einer fehlenden Strategie", erklärte er und prangerte zugleich Gleichgültigkeit in Deutschland sowie mangelnde Kritik und Selbstkritik "jenseits des Atlantiks" an. "Wir haben nicht wahrgenommen, was sich in Afghanistan in der Tiefe des Landes abspielte", bemängelte Gauck. "Man kann die Demokratie nicht gegen 80 Prozent der Bevölkerung durchsetzen."
Für die Zukunft forderte er belastbare Strategien und in Krisenfällen Politiker, die zu schnellen Entscheidungen fähig seien. Darüber hinaus müsse es eine Debatte über die Rolle des Militärs geben. "Die Demokratie muss willens und imstande sein, sich zu verteidigen", mahnte Gauck. "Der Bundeswehr gehören die Aufmerksamkeit und die Zuwendung der friedliebenden Menschen." Außerdem sei dringend ein europaweit gemeinsames Vorgehen mit Blick auf Migranten und Flüchtlinge erforderlich.
Der frühere Bundespräsident warnte zugleich vor Schlussfolgerungen, das demokratische Modell sei nur gut für den Westen. "Die Demokratie ist durch kein anderes Modell ersetzbar", unterstrich er. "Kein vorstellbares Gegenprogramm kann so viele Individuen und Staaten mit Hoffnung erfüllen." Auch in Afghanistan würden Menschen weiter von der Sehnsucht nach einer gerechten Ordnung angetrieben.
Gauck hielt im Rahmen der "Domgedanken" einen Vortrag in der Münsteraner Kathedrale. Kommende Woche beendet der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn die Veranstaltungsreihe mit dem Thema "Demokratie - das Fundament Europas. Anmerkungen zur Kraft freiheitlicher Staatsformen".