Der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner richtet den Fokus auf die Priesterausbildung. Als entscheidenden Hebel für die Prävention von sexuellem Missbrauch in der Kirche bezeichnete Zulehner im Interview der Presseagentur Kathpress eine Fokussierung auf die psychologische Reife von Priesteranwärtern. "Wenn die Kirche schon ehelose Priester will, so muss sie mit allen Kräften die Entwicklung der psychosexuellen Reife in der Seminarzeit fördern", so der renommierte Theologe. Zu diskutieren sei unter anderem, "ob die Männergesellschaft im Priesterseminar der optimale Ort für diesen Reifungsprozess ist".
Ein problematisches Verhältnis zu Sexualität betreffe zwar die moderne Gesellschaft als Ganzes, so der Wiener Theologe. "Wurde psychosexuelle Reifung früher durch Sexualneurotik behindert, so ergibt sich heute derselbe Effekt durch die weitgehende Abkoppelung von Lust und Beziehung." Die Frage, wie heute junge Menschen sexuelle Reife erlangen, komme "in unserem kulturpädagogischen Nachdenken allgemein viel zu kurz".
Ändern muss sich laut Zulehner auch die Vorstellung, was ein Priester sei. Den blinden Vertrauensvorschuss gegenüber Geistlichen sollte man "zumindest auf ein Normalmaß reduzieren"; ein neues Priesterbild sei angebracht. Es gelte, sich von archaischer Symbolik zu verabschieden und "das Amt als vernünftiges Dienen an der Gemeinschaft der Kirche zu verstehen", so der Theologe.
Für Ordensfrauen befürwortete Zulehner die Einrichtung einer "Notrufnummer an den eigenen Oberinnen vorbei, die für jede Ordensfrau frei zugänglich ist". Auch im Noviziat gelte es, die eigenen erotisch-sexuellen Bedürfnisse zu thematisieren, um Ordensfrauen vor einem Schlittern in Liebesbeziehungen zu schützen, in denen dann bei ebenso unreifen wie gnadenlosen Männern vorhandene "dunkle Geister geweckt" werden könnten.
Sexueller Missbrauch in der Kirche sei zwar eine Wunde, die auch Papst Franziskus nicht gänzlich heilen könne, so Zulehner: "Er tut aber alles, dass am Anfang der Therapie die richtige Diagnose steht." Sehr erfolgreich gelinge es dem Papst, in verschiedensten ungelösten Fragen, etwa auch beim Priestermangel und für Ehescheidungen, "Prozesse der Heilung auszulösen und diese auch strukturell zu verankern". Bessere Strukturen seien ein wichtiges Mittel der Prävention. Dazu gehöre auch die Verschärfung von Kirchenstrafen für Missbrauch. (KNA)