Über dem Briefkastenschlitz in der Kupferstraße in Troisdorf klebt ein Grünhelm eV-Aufkleber und am Klingelschild steht, neben Familie Neudeck, auch ein afghanischer Name. Hier bin ich richtig. Hier steht das kleine Reihenhaus, in dessen Wohnzimmer das Leben von so vielen zehntausend Menschen gerettet oder verändert wurde. Als ich klingele, erwartet Christel Neudeck mich schon.
Herzlich bittet sie mich in das legendäre Wohnzimmer. Tee und Kekse stehen schon bereit. Zwischen vielen Büchern hängen Bilder. Ganz unterschiedliche. Mein Blick bleibt an einem Bild hängen, das Janusz Korczak zeigt, einen polnischen Kinderarzt, der seine Waisenkinder im KZ in den Tod begleitete. "Der gehört zum Inventar, der Janusz wohnt irgendwie hier. Als ihm im KZ gesagt wurde, er könne gehen, antwortete er: Welcher Vater würde seine Kinder verlassen - und hat den Tod gewählt. So eine intensive Geschichte."
Heinrich Böll war der geistige Vater
Janusz Korczak wacht über einem kleinen grauen Sofa in der Kupferstraße über unser Interview. Wie zwei andere Menschen auch: Im Bücherregal stehen zwei Bücher mit den Covern nach vorne gedreht. Auf dem einen ist Rupert Neudeck, auf dem anderen der junge Heinrich Böll im Profil, so als schaute er Rupert Neudeck an: "Nachdem Rupert Böll von den ertrinkenden Flüchtlingen im südchinesischen Meer und der Möglichkeit ein Rettungsschiff zu chartern erzählt hatte, rief Böll ihn an: Neudeck, das müssen wir tun. Und machen Sie es breit. Das hat Rupert immer als die Gründungsminute von Cap anamur angesehen." Christel Neudeck schaut kurz zum Regal. "Nachdem nun Heinrich Böll und Rupert gestorben sind, habe ich gedacht: ich stelle die jetzt dahin. Ich bin keine Mystikerin, aber die Vorstellung, dass sie sich jetzt da oben unterhalten, von einer gelasseneren Position, als in unserer Welt, die immer so aufgeregt ist, die gefällt mir."
Christel Neudeck hat die Idee der Cap Anamur von Anfang an unterstützt: "Rupert war ein Workaholic, er hatte vor, sich zu habilitieren. Als Arbeiterkind hatte ich keinen großen Bezug dazu. Ich dachte: endlich setzt er seine Kraft für etwas ein, wo er was tun kann." Bei diesem Engagement ist der russische Bürgerrechtler Lev Kopelew Christel Neudeck ein großes Vorbild.
Man opfert sich nicht
"Man opfert sich nicht, das habe ich von Lev Kopelew gelernt. Wenn sich hier jemand bewarb und man heraushörte, sie wollen sich opfern, dann habe ich sie nie genommen. Weil: meine feste Überzeugung ist, vom Opfern ist man nach drei Wochen so k.o., dass man nach Hause muss, das hält man nicht durch." Natürlich sei das Helfen nicht immer leicht, manchmal auch wirklich schwer: "Zum Beispiel 2013, als drei unserer Mitarbeiter in Syrien entführt wurden. Aber in der Regel geht es ja gut und dann ist es eine Freude, wenn man was tut."
Wer sich engagiere, müsse mit Gegenwind rechnen. "Aber man darf sich nicht zu sehr damit beschäftigen, man wird schwach dadurch, man muss das begrenzen. Man muss sich fragen, wie ist es gelaufen, sind da kritische Dinge, die man ändern muss? Aber wenn man sagt, das war alles in Ordnung, dann muss man einfach weitermachen."
Was man nie vergessen kann
Christel Neudeck hat Buchprojekte, die ihr Mann angefangen hatte, zu Ende gebracht. Darunter das Buch: "Was man nie vergessen kann", in dem vietnamesische Flüchtlinge erzählen, wie sie ihre Rettung aus dem südchinesischen Meer erlebt haben. "Sie haben oft gebetet und gedacht: jetzt ist es zu Ende. Und da kommt da so ein wahnsinniges großes Schiff und ein Megafon sagt in ihrer Sprache: Habt keine Angst. Das ist biblisch", sagt Christel Neudeck, der die Erzählungen der Geretteten noch mal neu verdeutlicht haben, was die Cap Anamur für über 10 000 Menschen wirklich bedeutet habe.
"Von Afrika habe ich gelernt, was ein offenes Haus ist. Man stellt einfach einen Stuhl dazu. Am Niederrhein, wo ich aufgewachsen bin, war das auch so: Was man hat, das teilt man."
Zu einem offenen Haus gehörte auch die Aufnahme eines minderjährigen Afghanen: "Ich musste mich kümmern, ich wollte doch, dass unser letztes gemeinsames Projekt Erfolg hat." Es hat Erfolg: der junge Mann lernte deutsch, hat einen Schulabschluss und macht jetzt eine Ausbildung.
Die Power der Alten
Christel Neudeck hat nicht nur drei Kinder groß gezogen und für die Cap Anamur die Fäden im Wohnzimmer in der Hand gehalten. Sie hat auch zehn Jahre bei der Telefonseelsorge gearbeitet. "Unser größtes Problem ist die Einsamkeit" hat sie dort gelernt. Und appelliert an die "Power der Alten": "Tut was. Natürlich muss man dann ein bisschen Konfrontation aushalten, aber das ist schön, das ist lebendig. Und mein Wunsch ist, dass Menschen sagen: das versuch ich doch einfach mal."
(Wiederholung vom 28.01.2018)