Sonja Liggett-Igelmund

Sonja Liggett-Igelmund / © Angela Krumpen  (ak)

Vielleicht ist das verrückt - aber genauso war es: 2011 ist die Kölner Hebamme Sonja Liggett-Igelmund für eine Reportage nach Ghana gegangen, um dort 14 Tage als Hebamme zu arbeiten. 14 Tage, die ihr ganzes Leben verändern sollten. Nicht nur weil sie danach eine Hilfsorganisation gründete, sondern weil ihr Engagement für Afrika sie bis zu Angela Merkel brachte. Allerdings im Einsatz für die Hebammen in Deutschland.

Angefangen hatte es alles mit der Reportage "Job im Gepäck": "Die Frauen in Ghana haben mir für diese Reportage ihr Herz geöffnet. Da konnte ich nicht abreisen und nie wieder was von mir hören lassen. Das ist unfair, das kann ich nicht machen", sagt Sonja Liggett-Igelmund und sprüht vor Lust aufs Anpacken für eine Welt, in der es Kindern gut geht.

Es fehlte so viel

In Ghana fehlte es an allen Ecken und Enden. Und Liggett-Igelmund, die die Dinge gerne direkt und schnörkellos auf den Punkt bringt, gewann im Handumdrehen Verbündete: die Kinder aus den Klassen ihrer Söhne erzählten zu Hause davon, Eltern stellten einen Container bereit und schon sechs Wochen später ging dieser gefüllt bis unter die Decke mit Infusionen, Rollstühlen und Schulmaterial auf die Reise. In den nächsten sieben Jahren kamen mehrere Schulen, ein Hebammenhaus und unzählige andere Dinge dazu.

"Von Anfang an wollten wir für alle Menschen da sein. Einzelne Menschen pushen, das schafft immer ein Ungleichgewicht." Weil es in dem großen Dorf Havé mit 10 000 Menschen aber viele Schulen und eine Klinik gab, hat Liggett-Igelmund genau dort angesetzt. Alles wird  zur interkulturellen Begegnung, z.B. wenn Studenten aus Düsseldorf mit den Schülern der Technikerschule vor Ort ein Hebammenhaus bauen. Um all das zu stemmen, gründeten Liggett-Igelmund und ihr Mann Markus eine kleine NGO, "Meeting Bismarck", benannt nicht nach Reichskanzler Bismarck, sondern nach dem Baby Bismarck, das Liggett-Igelmund in Ghana auf die Welt brachte.

"Es ist so albern, wenn man in Ghana aufbaut, aber in Deutschland das Licht ausmacht."

Während Liggett-Igelmund in Ghana Schulen und Kliniken ausstattete, verschlechterten sich Jahr für Jahr die Bedingungen für ihre eigene Hebammenarbeit in Deutschland dramatisch: "Obwohl alle Kreißsäle in Köln überbelegt sind, musste ich meine Station mit 1200 Geburten im Jahr schließen. Die Frauen müssen sich jetzt noch zwischen die anderen quetschen." Der Schmerz über die Schließung ihrer eigenen Station steht Sonja Liggett-Igelmund heute noch ins Gesicht geschrieben.

Der Zufall wollte es, dass sie am Tag nach der Schließung zu Gast im Kölner Treff bei Bettina Böttinger war. Eigentlich sollte sie von Ghana erzählen - aber damit kam sie nicht weit. Die Schauspielerin Hannelore Hoger war auch zu Gast in der Sendung. Und es entstand eine gigantische Solidaritätswelle, in der Zehntausende für Hebammen in Deutschland auf den Tisch hauten, und die Sonja Liggett-Igelmund bis zu Angela Merkel brachte. Mit #AufdenTischhauenfürHebammen hätte also alles auf einen guten Weg kommen können.

Sichere Geburten werden für Frauen in Deutschland immer seltener

Aber dann kam die Bundestagswahl und ein neuer Bundesgesundheitsminister: "Jens Spahn scheint andere Prioritäten als Deutschlands Frauen und unsere Kinder zu haben. Wir Hebammen hören nichts von ihm." Im Juni war Sonja Liggett-Igelmund Teil einer Delegation beim parlamentarischen Staatssekretär. "Wir haben wirklich die Lösung auf den Tisch gelegt: eine 1:1 Betreuung der Frauen im Kreissaal ist unabdingbar. Genauso wichtig: gesunde Geburten müssen Geld bringen, nicht nur Operationen."

Frustriert stellt Sonja Liggett-Igelmund, Pressesprecherin von Hebammen für Deutschland e.V., heute fest, dass "Jens Spahn vor kurzem noch verkündet hat, es gäbe nichts zu tun, für die deutsche  Geburtshilfe." Noch frustrierter fährt sie fort, dass selbst engagierte, neue Aktionen von Tausenden Müttern nichts bewirkten: "Gegen so ein männliches Bollwerk von Ignoranz bräuchte ich eine Massenbewegung. Die habe ich nicht. Aber: noch sind wir da."

Text: Angela Krumpen

HINTERGRUND

Nur jede zweite Geburt in Nordrhein-Westfalen wird laut Krankenkasse AOK von einer Hebamme betreut. Es sei "bedenklich", dass viele werdende Mütter und junge Familien von der Hebammenhilfe nicht erreicht würden, erklärte der Vorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann, am Dienstag vor Journalisten in Düsseldorf. Zugleich liege die Säuglingssterblichkeit in dem Bundesland 20 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Über die Anzahl fehlender Hebammen gibt es laut Wältermann derzeit "keine verlässlichen Schätzungen".

Nach einer Studie der AOK Rheinland/Hamburg werden im bevölkerungsreichsten Bundesland gegenwärtig nur 53 Prozent der Familien in den ersten Wochen nach der Geburt von einer Hebamme betreut. Vor fünf Jahren habe diese Quote noch bei 64 Prozent gelegen. Die Versorgung unterscheide sich regional stark. Während im Oberbergischen Kreis drei von vier werdenden Müttern von einer Hebamme betreut werden, profitiert im Ruhrgebiet nur jede dritte Schwangere von den Angebot.

Ob das Hebammen-Angebot Frauen erreiche, hänge sehr von ihrer sozialen Lage ab, erklärte AOK-Chef Wältermann. Während berufstätige Schwangere zu 65 Prozent von einer Hebamme betreut würden, seien es bei arbeitslosen Müttern nur 33 Prozent. Frühzeitige und umfassende Informationen über Geburtshilfe seien notwendig, damit alle Schwangeren erreicht werden könnten. Zudem sei die Wertschätzung für den Beruf der Geburtshelferinnen zu verbessern, verlangte Wältermann. Hebammen müssten "auf Augenhöhe mit den Ärzten arbeiten".

Angesichts einer im Vergleich zum europäischen Ausland hohen Säuglingssterblichkeit in Deutschland tritt die AOK für eine Konzentration von Risikogeburten auf hochspezialisierte Geburtszentren (Perinatalzentren) ein. Bundesweit sterben statistisch 3,4 von 1.000 Säuglingen vor ihrem ersten Geburtstag. In NRW beträgt diese Rate sogar 4,1 Kinder, während sie in Finnland bei 1,7 und in Norwegen bei 2,3 Kindern liegt.

Der Zusammenhang zwischen der Anzahl der betreuten Geburten in einer Klinik und der Sterblichkeit der Neugeborenen sei wissenschaftlich belegt, erklärte AOK-Vorstandsmitglied Mathias Mohrmann. Deshalb müssten Perinatalzentren so ausgebaut werden, dass sie pro Jahr mindestens 30 statt wie bisher höchstens 14 Frühchen mit einem Gewicht von unter 1.250 Gramm betreuen können.

In Deutschland arbeiten derzeit nach den Schätzungen der AOK etwa 22.000 Hebammen, davon 4.000 bis 5.000 in NRW. Im Rheinland kommen auf 2.200 ambulant tätige Hebammen im Schnitt 40 Neugeborene pro Jahr.