Der Augenblick des Wunders
Auf diesen Moment haben, die Neapolitaner gewartet: Ihre Blicke sind nach vorn zum Hochaltar gerichtet, dort steht die Büste des Sankt Januarius, des Schutzheiligen der Stadt. Neben ihr hält der Bischof ein Reliquiar in die Luft. Ein silbernes Gefäß hinter dessen Scheibe eine kostbare Blutampulle zu erkennen ist. Das Blut des Heiligen Januarius.
Vorsichtig wird die Ampulle hin und her bewegt und in der Luft gedreht. Kameras sind auf sie gerichtet. Nach einigen Minuten ist es so weit: Das Blutwunder wird sichtbar. Die trockene dunkelrote Masse wird flüssig.
Unter dem Jubel der Gläubigen beginnen die Domglocken zu läuten. Alle drängen jetzt zum Altar, um die Ampulle mit dem Blut aus der Nähe zu sehen und das Reliquiar zu küssen.
Andreas Bell ist Referent für den Dialog mit den Naturwissenschaften und kennt die Begeisterung der Neapolitaner an diesem Tag:
"Draußen werden auf der Straße Böller entzündet und Raketen steigen gelassen. Weil jeder ist erleichtert, dass der Segen des Heiligen noch auf der Stadt ruht. Und dass auch dieses Jahr der Vesuv nicht ausbricht. Dass es auch dieses Jahr keine Pest in Neapel gibt. Und das stimmt auch tatsächlich bislang."
Vom Heiligen zum Blutwunder
Der Heilige Januarius, um dessen Gnade an diesem Tag gebetet wird, lebte zu Beginn des 4. Jahrhunderts und hatte das Amt des Bischofs von Neapel inne.
Er kümmerte sich um die Gefangenen der Christenverfolgung. Der Stadthalter ließ ihn deshalb in einen Ofen werfen, um ihn zu verbrennen. Überlieferungen berichten davon, dass die Flammen dem Heiligen aber nichts anhaben konnten. So fiel um das Jahr 305 die Entscheidung ihn zu enthaupten.
Kurz nach seiner Enthauptung dann, soll eine Frau der Legende nach, das Blut des Märtyrers in einer Ampulle aufgefangen und aufbewahrt haben. Als 1491 die Gebeine und die Ampulle des Heiligen nach Neapel gebracht wurden, hatte sich das Blutwunder einige Jahre zuvor zum ersten Mal ereignet.
Wenn das Blutwunder ausbleibt – büßt der Bischof
Seitdem ist es fest verankert im Glauben der Neapolitaner, die jedes Jahr aufs Neue zum Dom pilgern, um die Verflüssigung des Blutes zu sehen.
Auf dem Bischof, der den Gottesdienst zelebriert, lastet ein erheblicher Druck, weiß Andreas Bell:
"Es gab mal einen Bischof, das ist aber schon viele Jahrzehnte her, der wurde regelrecht verprügelt, weil sich das Wunder nicht einstellte und das Volk dann davon ausging: Der Heilige gewährt dem Bischof nicht das Wunder, also stimmt mit ihm etwas nicht. Und dann musste er das büßen."
Das Blutwunder und die Wissenschaft
Meistens klappt es und das Blut verflüssigt sich tatsächlich unter den Bewegungen des Bischofs. In den letzten 400 Jahren wurden zusätzlich zu den drei großen Feiertagen noch etwa 80 weitere Verflüssigungen des Blutes in der Ampulle gezählt. Endgültig klären kann man das Phänomen bisher nicht. Es gibt aber Vermutungen darüber, warum das trockene Blut flüssig wird. Andreas Bell:
"Das kennt man in der Chemie, das sind sogenannte tixotrope Flüssigkeiten. Die, wenn man sie ein Ruhe lässt, einen gelartigen Zustand einnehmen. Oder auch, wie man es Zuhause überprüfen kann, bei Tomatenketchup. Wenn er lange genug steht, dann ist er fest. Deshalb muss man die Flasche kräftig schütteln, schütteln… und dann fließt er mit einem Rutsch flüssig aus der Flasche raus."
Mehr als Chemie
Das Blutwunder von Neapel ist also nur eine chemische Reaktion? Der Referent für den Dialog mit den Naturwissenschaften glaubt ja, will die Bedeutung dessen aber trotzdem nicht schmälern. Das Blutwunder sei eine Jahrtausende alte Tradition, die von Volksfrömmigkeit zeugt. Daran glauben, sollte man aber nicht.
Unser Glaube beruht nicht auf mysteriösen Ereignissen, die auf die Fürsprache von Heiligen plötzlich geschehen. Christen glauben, dass sie immer, zu Zeiten der Pest oder außerhalb, mit oder ohne Erdbeben, immer in Gottes Liebe grenzenlos geborgen sind und etwas anderes glauben wir gar nicht.
Und so hat auch der Vatikan das Blutwunder von Neapel nicht offiziell als Wunder anerkannt.