Mit diesem Werk führte sich der neu gewählte Thomaskantor 1724 im Rahmen des Karfreitagsgottesdienstes in Leipzig ein, allerdings nicht in der Thomaskirche, sondern in der Nikolai-Kirche. Bach schuf mit dieser Passionsvertonung einen ersten Höhepunkt der sogenannten oratorischen Passion. Das Werk bringt den unveränderten Bibeltext, barocke Dichtung und Choralstrophen in einen inneren Zusammenhang. Musikalisch ist Bachs Tonsprache von der italienischen Oper der damaligen Zeit inspiriert. Dies erklärt die Leidenschaftlichkeit und Dramatik der Johannes-Passion.
Die Dramatik gilt aber nicht allein dem äußeren Vorgang, sondern der theologischen Vertiefung des Textgehalts. Gleich die Eröffnung lässt dies sehr deutlich erkennen. Einerseits lassen die ständigen dissonanten Reibungen Trauer und Schmerz als Grundstimmung geradezu erfühlen. Andererseits baut Bach einen kunstvollen dreistimmigen Satz in den Instrumenten auf, der auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit Gottes verweisen will. Entsprechend ruft der einsetzende Chor dreimal den allmächtigen Gott als "Herr" an. Damit macht Bach gleich zu Anfang die Theologie des Johannes-Evangeliums deutlich: Der eigentliche Herrscher ist nicht der Tod, sondern der Gott des Lebens:
Eine besondere Aufgabe der oratorischen Passion ist es, das geschilderte Geschehen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Die Hörenden sollen nicht nur andächtig oder gar nur musikalisch genießend zuhören, sondern einen inneren Bezug zu sich selbst herstellen. Dies geschieht über eingestreute Vertonungen von Barockdichtungen, die den Bibeltext weiterführen.
Ein sehr eindrückliches Beispiel ist die so genannte Nachfolge-Arie, die Bach dem Sopran zuordnet. Anknüpfend an den vom Evangelisten rezitierten Bibelvers: "Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein ander Jünger" lässt Bach nun diesen anderen Jünger singen: "Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten, mein Leben, mein Licht, und lasse dich nicht. Befördre den Lauf und höre nicht auf, selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten." Geschickt lässt Bach zur Verdeutlichung des Themas Nachfolge die begleitenden Flöten drei Noten nach dem Sopran mit demselben Thema einsetzen. Nachfolge wird musikalisch als Nachahmung gestaltet.
Im Gegensatz zu dem namenlosen Jünger hat Petrus Jesus in der Leidensgeschichte dreimal verleugnet. Dieses Scheitern des Petrus an den eigenen Grenzen bedenkt Bach in einer Choralstrophe, die erst von Petrus spricht, zerrissen zwischen "Verneinen" und "Weinen", dann aber auch vom Hörenden: "Jesu, blicke mich auch an ... Rühre mein Gewissen!"
Musikalischer Höhepunkt der Passion im Sinne der dramatischen Spannung ist sicher der Prozess Jesu, an dessen Ende die Verurteilung zum Tod steht. Der Wechsel zwischen Erzählung, Dialogen und geradezu skandierenden Einwürfen des Volkes hat Bach zu einer kompositorischen Verdichtung geführt, der man sich wohl kaum entziehen kann. Besonders ein in sich ruhender Jesus und Chöre mit bizarrer Melodik und starker rhythmischer Ausprägung stehen einander gegenüber. Wenn auch das vordergründige Drama am meisten in die Ohren dringt, gilt auch für diesen Teil des Oratoriums, dass Bach den Blick durch die eingebauten Choräle immer wieder auf die Hörenden lenkt.
Der Schlussteil der Johannes-Passion widmet sich der Grablegung Jesu. Nach dem aufwühlenden Mittelteil von Prozess und Kreuzigung komponiert der Thomaskantor eine Musik, die in die innere Ruhe und Andacht zurückführt. Dabei geht es nicht um Verharmlosung, sondern um die Hinführung zum eigenen Glauben an ein ewiges Leben. Denn dafür genau ist Jesus ans Kreuz gegangen, um es mit Worten aus einem der Chorsätze zu sagen: um den Himmel aufzumachen und die Hölle zuzuschließen.
Text: Dr. Gunther Fleischer; Erzbistum Köln (Erstsendedatum: 03.04.2015, Wiederholung am 25.03.2016)