"Die Menschen leben heute selbstbestimmter“, sagt Graf: "Sie gehen in Sachen Religion ihren eigenen ganz individuellen Weg“. Den Kirchen attestiert er ein Sprachproblem. Es gelinge den Verantwortlichen nicht mehr, den lebensdienlichen Gehalt christlicher Symbole zu erläutern. "Es fehlt an Ansprechpartnern, die gute religiöse Dienstleistungen anbieten“, sagt Graf. Offenkundig hätten die Kirchen in der alten Bundesrepublik über Caritas und Diakonie immer mehr Sozialstaatsaufgaben an sich gezogen und so möglicherweise vergessen, ihre religiösen Kernkompetenzen zu pflegen. Neben der verquasten Sprache der Theologen kritisiert Graf einen selbstgerechten Moralismus der Funktionäre, die Bildungsferne der Gottesdienste, die Demokratievergessenheit und die immer noch oft weltfremde Selbstherrlichkeit der Würdenträger.
Aber Professor Graf sieht die Kirchen in der säkularen Welt Europas weiß Gott nicht als Auslaufmodell. Der Kirchenbesuch an Weihnachten boomt – und das sei weit mehr als ein verbürgerlichtes Weihnachtschristentum, sagt Graf. Es gebe ein großes religiöses Bedürfnis: "Alle Prognosen vom definitiven Tod des Christentums in der Moderne haben sich nicht bewahrheitet“, sagt der Theologieprofessor.