Dürre Worte finde ich an einem Sonntagnachmittag in einer Email. Alle sind ausgeflogen, kommen erst am Abend zurück. Kurzerhand erledige ich, was ich noch erledigen wollte, fahre zu dem Freund ins Krankenhaus.
Der Besuchte freut sich über die spontane Idee. Er ist leutselig, wie immer. Wir plaudern, streifen die Verdachtsdiagnose nur am Rand. Jetzt kann man eh nur warten und die zufällig gefundenen Metastasen lassen der Fantasie kaum Spiel.
Am nächsten Tag ist es kein Verdacht mehr. Ein extrem bösartiger Tumor wird gefunden. Gut zwei Wochen und eine Chemotherapie später, treffe ich einen kaum wiederzuerkennenden, schwerstkranken Menschen.
Im Treppenhaus gehe ich wie in Zeitlupe. Bevor ich die Welt da draußen wieder konfrontieren kann, muss ich mich erstmal sammeln. Es ist völlig klar: Viel Zeit bleibt jetzt nicht mehr.
So schnell kann das gehen? So schnell kann das, ganz offensichtlich, gehen.
Immer wenn mich die Wahrheit, dass wir alle, jede und jeder von uns, sterben müssen, mitten ins Herz trifft, begreife ich für einen Moment, wie kostbar das Leben ist.
Für einen Moment weiß ich wieder: es nicht selbstverständlich, dass ich jeden Morgen beim Aufwachen einen ganzen langen Tag neues Leben vorfinde. Ich denke immer nur, dass sei selbstverständlich.
Oder, schlimmer, ich denk gar nichts. Nehme einfach hin, dass das Leben weitergeht.
„Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber. Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten.“ Die große Dichterin Hilde Domin hat ihr Gedicht über das Sterben „Unterricht“ genannt. „Nur einmal sterben sie für uns. Nie wieder.“ Heißt es darin.
Und weiter: „Was wüssten wir je ohne sie? Ohne die sicheren Waagen, auf die wir gelegt sind, wenn wir verlassen werden. Diese Waagen, ohne die nichts sein Gewicht hat.“
Hilde Domin ist Realistin: „Wir, deren Worte sich verfehlen, wir vergessen es. Und sie? Sie können ihre Lehre nicht wiederholen.“
Heute, an Allerheiligen, nutzen viele Menschen den freien Tag. Bringen frische Blumen und helle Kerzen zu ihren Liebsten, die schon vorausgegangen sind.
Ein kollektives Ritual. Das Angebot, einmal im Jahr, einfach so, sich zu erinnern. Daran, dass keiner von uns die Stunde kennt. Nicht die unserer Liebsten. Nicht die eigene.
Unsere Zeit ist unser Leben. Seien wir klug.