DOMRADIO.DE: Wir haben die relativ ungewöhnliche Situation für Deutschland, das wir am Wahlabend noch nicht wissen, wer neuer Bundeskanzler werden wird. Das wird sich alles erst jetzt in den Koalitionsverhandlungen in den kommenden Tagen, Wochen, vielleicht Monaten entscheiden. Was geht Ihnen in dieser Lage durch den Kopf?
Franz-Josef Overbeck (Bischof von Essen und Vizepräsident der Europäischen Bischofskomission COMECE): Es geht mir durch den Kopf, dass ich froh bin, dass immerhin vier Parteien zusammen drei Viertel aller Wählerstimmen erhalten. Und von daher gesehen ja ein klarer Auftrag ergangen ist zu einer Koalitionsregierung, die dann jetzt gebildet werden muss unter den Bedingungen, die sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen werden.
Und das zweite, dass ich schon länger den Eindruck habe, dass die Volksparteien mit vielen Verschiebungen rechnen müssen. Dass es, glaube ich, eher eine Personenwahl wird als eine Wahl, die sich mit klassischen Parteibildern und Parteiprogrammen verbindet. Und das kann man auch bei den Wähler-Verschiebungen im Verhältnis zu der letzten Wahl an manchen Stellen sehr deutlich sehen.
DOMRADIO.DE: Schauen wir mal auf die AfD, die jetzt im nächsten Bundestag höchstwahrscheinlich nicht mehr Oppositionsführerin werden wird. Das ist ja aus demokratischer Sicht eine gute Meldung. Trotzdem sind es über zehn Prozent im Bund und eine große Anzahl von Direktmandaten in den ostdeutschen Bundesländern. Wie bewerten Sie dieses Abschneiden?
Overbeck: Das ist eine nachdenklich machende Nachricht, gerade auch im Blick auf die Aufgabe der Parteien, die in diesem Spektrum sonst immer viele Wählerinnen und Wähler haben binden können, doch dafür zu sorgen, dass es nicht zu so vielen extremen Entwicklungsprozessen kommt. Das halte ich für die Politik auf Dauer, gerade angesichts der großen Aufgaben, die zu bewältigen sind, für eine große Herausforderung, aber auch an manchen Stellen bedenklich und gefährlich.
DOMRADIO.DE: Eine positive Meldung ist aber garantiert die hohe Wahlbeteiligung. Wir liegen über 70 Prozent und es ist im Wahlkampf ja schon so gewesen, dass Politik anscheinend kein Tabuthema mehr ist, sondern dass jeder mit Interesse den anderen fragt: Wen hast du eigentlich vor zu wählen?
Overbeck: Das hat sich in den letzten Wochen und Monaten, eigentlich seit Ende Juni, Anfang Juli und vor allen Dingen zunehmend noch nach der Flutkatastrophe, die uns in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz so sehr betroffen hat, deutlich gezeigt und ist ein positives, finde ich, reifes Zeichen der Demokratie, dass Politik im Sinne dessen, dass alle sich mit dem beschäftigen, was alle öffentlich angeht, ein großes Thema wird. Und von daher gesehen bin ich da über die über 70 Prozent hohe Wahlbeteiligung mehr als erfreut.
DOMRADIO.DE: Ein sehr großes Thema im Wahlkampf war der Umweltschutz, die Bewahrung der Schöpfung. Was wünschen Sie sich da von der neuen Regierung, egal wie die jetzt aussehen wird?
Overbeck: In meiner Aufgabe als Vizepräsident der COMECE, der Konferenz der Europäischen Bischofskonferenzen in der EU, sehe ich, wie sehr in Brüssel, auch unterstützt von Frau Von der Leyen und ihrem "Green Deal", eine wirkliche nachhaltige Klimaschutzpolitik an die erste Stelle gerückt ist. Ich hoffe und ich wünsche, dass das auch so bleibt und das noch intensiviert wird, auch angesichts der vielen Fragen, die mir im Blick auf die Generationengerechtigkeit durch den Kopf gehen, und in der Verbindung zwischen sozialer Lebensqualität, aber auch ökologischer, unbedingt neu justiert gehören.
DOMRADIO.DE: Die Zeit der Volksparteien scheint nun endgültig vorbei, wie auch die Zeit der Volkskirchen. Was heißt das für die Gesellschaft, dass sowohl Kirche als auch Politik ihren Stand in der Gesellschaft nicht mehr garantiert haben?
Overbeck: Das ist ein Zeichen einer sich wirklich wandelnden Gesellschaftsformation, die ja schon lange im Gang ist. Eine solche Veränderung positiv zu gestalten, zeigt einfach, dass gerade die Religionen und Konfessionen, die wesentlich auch das politische Leben mit gestaltet haben, weiter gestalten wollen, sich auch auf andere Entwicklungen einlassen müssen. Das ist schon lange in Europa zu studieren. Sie können das in allen großen Ländern und den Verschiebungen innerhalb der damaligen Volksparteien, die diese Länder sehr geprägt haben, genauso erkennen, wie das jetzt mit einer deutlichen Verspätung sichtlich auch in Deutschland der Fall zu sein scheint.
Und von daher gesehen muss man, glaube ich, deutlich sagen: Hier geht es um Inhalte und um Inhalte muss man werben - und die müssen auch gut begründet sein. Von daher haben die Kirchen im sozial-ethischen Sinn eine große Chance. Aber sie können sich nicht mehr auf einfache, die jeweiligen Parteien zugerechnete Verhältnisse, verlassen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.