"Ben zibena, bluot zibluoda, lid zigeliden, sosegelimida sin". So lauten die beschwörenden Schlussworte der Merseburger Zaubersprüche auf Althochdeutsch. Übersetzt heißt das: "Knochen zu Knochen, Blut zu Blut, Glied zu Glied! So seien sie zusammengefügt!" Die Fußverletzung eines Pferdes sollte mit diesen Worten geheilt werden.
Die Sprüche, die im 19. Jahrhundert im Merseburger Domkapitel gefunden wurden, gelten als die einzigen in Deutschland erhaltenen heidnischen Beschwörungsformeln. Sie wurden vor mehr als 1.000 Jahren ausgerechnet von einem Mönch aufgeschrieben und erst vor 180 Jahren im Domstiftsarchiv wiederentdeckt.
"Geweiht für die Ewigkeit"
Zur 1.000-jährigen Wiederkehr der Merseburger Dom-Weihe an diesem Freitag können die auf Pergament verewigten Verse ausnahmsweise im Original in der Marienkapelle der Kathedrale besichtigt werden - einen ganzen Monat lang. Dem Jubiläum ist unter dem Motto "Geweiht für die Ewigkeit" ein ganzes Festjahr gewidmet: Seit ein paar Monaten läuft eine Sonderausstellung, am Festwochenende sind die Weihe einer neuen Glocke für das Dom-Geläut sowie eine Prozession in historischen Kostümen geplant. Merseburger Grundschüler nehmen mit selbst gestalteten Bischofsmitren daran teil.
Die Kathedrale mit den vier markanten Türmen liegt am Steilufer der Saale und erhebt sich über die Stadt. Seit etwa 1500 bildet sie den vierten Flügel von Schloss Merseburg. Die Stadt galt bis zur Reformation als wichtigste Kaiserpfalz im Osten des mittelalterlichen deutschen Reiches.
Der Grundstein für die seit 1561 evangelische Kirche, in der auch Martin Luther einmal predigte, wurde 1015 eigenhändig durch Bischof Thietmar von Merseburg (1009-1018) gelegt, einen der berühmtesten Chronisten des Mittelalters. Nach nur sechs Jahren Bauzeit erfolgte 1021 die Weihe. Den Aufstieg zu einem der bedeutendsten Kathedralstandorte ist Kaiser Heinrich II. (973-1024) zu verdanken.
Er erklärte ihn der Überlieferung nach zu seinem Lieblingsort und hielt sich mit seiner Gemahlin Kunigunde (980-1033) häufig dort auf.
Zur romantischen Neigung gesellte sich allerdings auch politisches Kalkül: Mit einem starken Merseburg festigte Heinrich seine Macht im Osten des Reiches. Damit einher ging die Errichtung eines geistlichen Zentrums. Entsprechend stellte Heinrich zunächst 1006 das alte Bistum Merseburg wieder her, gab den Auftrag zum Bau eines repräsentativen Doms und förderte ihn mit reichen Schenkungen. Der später heilig gesprochene Kaiser stattete Domschatz und Dom mit prächtigen Kunstwerken aus. Seit 1002 war er 29 Mal in Merseburg und ließ es sich auch nicht nehmen, zur Weihe des Doms am 1. Oktober 1021 persönlich zu erscheinen.
Grußwort von Bischof Feige
Kostbare Reliquiengefäße, kunstvolle Altäre, eine Fürstengruft mit 37 Särgen: Der Dom "sei voller Spuren und Zeichen dessen, was die Menschen zur damaligen Zeit bewegt hat, welches Verhältnis ihre Stifter und Erbauer zur Welt und zu Gott gehabt haben", schreibt der Magdeburger Bischof Gerhard Feige in seinem Jubiläumsgrußwort.
So erinnern im Merseburger Dom noch heute zahlreiche Darstellungen an die Verehrung des heiligen Kaiserpaares im Mittelalter, so etwa der sogenannte Heinrichsaltar von Lucas Cranach dem Älteren, der zwischen 1535 und 1537 entstand. Er ist in der Vorhalle des Doms zu besichtigen.
Im 19. Jahrhundert wurde der Merseburger Dom vor allem durch die Ladegastorgel weltberühmt, die zwischen 1853 und 1855 von Friedrich Ladegast geschaffen wurde. Sie gehört mit ihren 5.678 Pfeifen zu den größten und klangschönsten romantischen Orgeln in ganz Deutschland.
Komponist Franz Liszt ließ sich von ihr zu zahlreichen Werken inspirieren.
Sprachwissenschaftler Jacob Grimm würdigte die überlieferte Handschrift der Merseburger Zaubersprüche im 19. Jahrhunderts als "Kostbarkeit", der keine Bibliothek in Deutschland etwas zur Seite zu stellen habe. Auch im 21. Jahrhundert faszinieren die Sprüche weiterhin: Zum Jubiläum konnten Interessierte die Verse selbst rezitieren und von dem Vortrag ein Video einschicken; die Gewinner werden am Festwochenende präsentiert.