Charles-Joseph Pigeon und seine Gattin Marie hat der Tod nicht trennen können. Ihr gemeinsames Grabmal zeigt das Paar im Bett. Charles-Joseph, den Ende des 19. Jahrhunderts die Erfindung einer explosionssicheren Gaslampe reich machte, halb aufgerichtet mit gezücktem Stift und Notizzettel in der Hand. Neben ihm, züchtig bedeckt, Marie, eine Rose haltend und den Blick in die Ferne gerichtet.
Ruhestätten berühmter Persönlichkeiten
Szenen einer Ehe, zu sehen auf dem Pariser Friedhof Montparnasse. Mit 19 Hektar Fläche ist er der zweitgrößte der 20 städtischen Friedhöfe. Anders als bei seinen beiden noch berühmteren Pendants Pere Lachaise im Westen und Montmartre im Norden hält sich das Interesse der Touristen an dem südlich der Seine gelegenen Cimetiere du Montparnasse eher in Grenzen. An Ruhestätten berühmter Persönlichkeiten herrscht aber auch hier kein Mangel: Der Philosoph Jean-Paul Sartre ist hier begraben, ebenso der Fotograf und Maler Man Ray oder die Sängerin Juliette Greco.
Bei rund 42.000 Grabstätten fällt die Orientierung allerdings nicht leicht – der Besucher wird zwangsläufig zum Flaneur. Unscheinbar das Grab von Charles Baudelaire: In zweiter Reihe teilt sich der Dichter der "Blumen des Bösen" eine schmale Parzelle mit der vergötterten Mutter Caroline und dem verhassten Stiefvater Jacques Aupick. Frisches Grün schmückt die Ruhestätte.
Ein paar Schritte weiter streckt sich eine Säule himmelwärts. Sie erinnert an Jules-Sebastien-Cesar Dumont d'Urville. Der wagemutige Seefahrer und Polarforscher trotzte dem Packeis vor der Antarktis. Zum Verhängnis wurde ihm 1842 der Achsenbruch einer Lokomotive auf der zwei Jahre zuvor eröffneten Strecke von Versailles nach Paris. Bei diesem ersten Zugunglück in Frankreich kamen d'Urville und rund 50 weitere Passagiere ums Leben.
Namen von NS-Konzntrationslagern
Unterteilt ist das Gelände in 30 unterschiedlich große Bereiche. Standesgemäß in "Division 1" ruht der ehemalige Staatspräsident Jacques Chirac. Nicht weit entfernt verzweifeln zwei Besucher daran, das Grab des im September gestorbenen Schauspielers Jean-Paul Belmondo zu finden. "Schade, dass hier nichts richtig ausgeschildert ist", klagen sie.
Der Passantin, die auf einer Bank am zentralen Platz mit der Statue "Genius des ewigen Schlafes" in der Sonne sitzt, ficht das nicht an. Ein Baguette auf dem Schoß, scheint sie die Ruhe inmitten eines der belebtesten Pariser Viertel zu genießen. In der Nähe hat sich ein Geschäftsmann zu einem Telefonat zurückgezogen. "It's not the end of the world" – "Das ist nicht das Ende der Welt", beruhigt er mit französischem Akzent seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Was wohl die Toten zu seinen Füßen dazu sagen würden?
Im Diesseits wurde die Stadt an der Seine für manche von ihnen ein sicherer Hafen und Startpunkt für ein neues Leben. Chinesische Schriftzeichen, kyrillische Buchstaben oder persische Namen zeugen von Zuwanderern aus aller Herren Länder. Viele jüdische Menschen mit Wurzeln in Deutschland sind darunter. Auf manchen Grabsteinen stehen die Namen von NS-Konzentrationslagern.
Mit der Person des fälschlich wegen Landesverrats verurteilten Offiziers Alfred Dreyfus ist ein Justizskandal verbunden, der ab 1894 Frankreich erschütterte und lange vor dem Holocaust zeigte, wie fest der Antisemitismus in den Köpfen verankert war. Der Schriftsteller Emile Zola gehörte zu jenen, die Partei für Dreyfus ergriffen. Sein berühmter Brief an den damaligen Präsidenten Felix Faure trug die Überschrift "J'accuse" (Ich klage an).
Gräber von Opfern jüngster Anschläge
"Indignez-vous!" (Empört euch!) rief dagegen der ehemalige Buchenwald-Häftling und UN-Diplomat Stephane Hessel den Lesern seines Essays zu, in dem er 2010 unter anderem Auswüchse der globalen Finanzindustrie anprangerte. Vor allem die junge Generation fühlte sich dadurch angesprochen. Darauf deuten auch die kleinen Andenken hin, die verstreut auf Hessels Grab liegen, der 2013 im Alter von 95 Jahren starb.
Manche Schlachten sind geschlagen; manche Wunden bleiben offen. In Montparnasse finden sich auch Gräber von Opfern der jüngsten islamistischen Anschläge. Wie eine Mahnung an alle Fanatiker dieser Welt liest sich die letzte Botschaft des aus Polen stammenden Zeichners Gustave Elrich, genannt Gus (1911-1997): Er habe über jenen Religionen gestanden, die die Menschen gegeneinander aufbringen, und stattdessen die schönste von allen gefunden: "Er liebte jeden."
Alle Wege offen hält sich der 1994 gestorbene rumänisch-französische Autor Eugene Ionesco: "Ich bitte den 'ich weiß nicht wer' – ich hoffe: Jesus Christus", steht am Rande seiner Grabplatte. Im Hintergrund leuchtet das Laub der Linden, Ahornbäume und Platanen in allen Schattierungen zwischen gelb, grün, rot und braun.
Die herbstliche Farbenpracht kann es fast schon aufnehmen mit der riesigen bunten Katze, die Niki de Saint Phalle für das Grab ihres Assistenten Ricardo Menon gestaltete. Paare dagegen dürfte die Skulptur "Der Kuss" von Constantin Brancusi in der gegenüberliegenden Ecke des Geländes eher in den Bann ziehen. Paris bleibt nun mal die Stadt der Liebe – auch auf dem Friedhof von Montparnasse.