Nur ein paar Clicks, und schon taucht der Betrachter per Computer in enge mittelalterliche Gassen ein. Fachwerkhäuser, Giebel, die sich zueinander neigen, lange Schatten auf lehmigen Wegen. Virtuelle Realität. Glaubt man Bauforschern, Archäologen und Computerexperten der Technischen Universität Darmstadt, könnte so ähnlich das jüdische Viertel in Köln um das Jahr 1349 ausgesehen haben.
Kulturelles Gedächtnis
Marc Grellert und seine Kollegen vom Fachgebiet Digitales Gestalten am Fachbereich Architektur der TU Darmstadt sind Experten für kulturelles Gedächtnis. Derzeit arbeiten sie an der digitalen Rekonstruktion des jüdischen Viertels in Köln, wo sich derzeit eine der größten archäologischen Ausgrabungsstätten Deutschlands befindet.
Seit mehr als 25 Jahren widmet sich der Ingenieur der Rekonstruktion zerstörter deutscher Synagogen am Computer. Einige seiner Werke werden am Gedenktag der Novemberpogrome von 1938 öffentlich zu sehen sein. An ihren historischen Standorten werden sie auf die heutigen Gebäude oder auf Leinwände projiziert.
Erinnerung an das jüdische Leben
"18 von den Nationalsozialisten zerstörte oder schwer beschädigte Synagogen werden dank digitaler Technologie in der Nacht vom 9. auf 10. November für wenige Stunden wieder in ihrem ursprünglichem Glanz erstrahlen", kündigte der Jüdische Weltkongress (WJC) an. So solle an das ehemals reichhaltige und vielfältige jüdische Leben in Deutschland erinnert werden. Neben 5 Standorten in Österreich sind in 13 deutschen Städten Videoprojektionen zu sehen, zum Teil mit einer erweiterten Präsentation über eine Virtual-Reality-Brille: darunter Berlin, Hamburg, München, Frankfurt/Main und Köln.
Angefangen hat die Sache für Grellert im März 1994, als Rechtsradikale Brandsätze auf die Synagoge in Lübeck geworfen hatten. Der damalige Architekturstudent wollte ein Zeichen setzen und zerstörte Synagogen mit digitalen Mitteln wieder zum Leben erwachen lassen.
Architektonische Vielfalt
Am Anfang standen die virtuelle Rekonstruktion von drei Frankfurter Synagogen und eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt. "Das Echo war so überwältigend, dass wir uns entschlossen haben, weiterzumachen", erinnert sich Grellert. Und zwar damit, im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland erbaute Synagogen virtuell zu rekonstruieren und dabei auch die architektonische Vielfalt widerzuspiegeln. Eine aufwendige Puzzlearbeit auf der Grundlage alter Fotografien, Baupläne, Zeitzeugenberichte und zeitgenössischer Zeichnungen.
25 Gebetshäuser rekonstruiert
Seitdem hat die Computertechnologie große Sprünge gemacht. "Während die Frankfurter Synagogen in einer ersten Ausstellung lediglich als Ausdrucke gezeigt wurden, können wir heute mittels Virtual-Reality-Brille in rekonstruierten Synagogen umhergehen", sagt Grellert. Ungefähr 25 jüdische Gebetshäuser haben er und seine Mitarbeiter inzwischen als virtuelle Konstruktionen erarbeitet. Sie sollen die kulturelle Blüte des Judentums in Deutschland verdeutlichen. Er wolle aber auch an die Schoah, die Umstände der Zerstörung und die Schicksale der Nutzer erinnern.
Ein Weg dahin war die Wanderausstellung "Synagogen in Deutschland - Eine virtuelle Rekonstruktion", die seit 2000 in Deutschland, Israel, Kanada und den USA zu sehen war. Ein festes Domizil könnte sie im Frankfurter Hochbunker an der Friedberger Anlage erhalten. Der 1942 errichtete fensterlose Bau steht über den Fundamenten einer Synagoge, die im November 1938 zerstört wurde.
3D-Modelle
Neben Virtual Reality nutzen die Techniker mittlerweile auch die Möglichkeit, digitale Modelle gewissermaßen über Nacht auszudrucken. Die eingesetzten Materialien reichen von Gips und Keramik bis zu Glas und Metall. Für die neue Dauerausstellung des Jüdischen Museums in Berlin werden Modelle für die Synagogen aus Köln, Hannover, München und Plauen aus Edelstahl gedruckt.
Darüber hinaus hat Grellert 2002 das Synagogen-Internet-Archiv entwickelt - eine Datenbank, die Informationen über 2.100 Synagogen enthält, die sich 1933 in Deutschland befanden. Diese Datenbank ist zurzeit nicht online. Die Ergebnisse sind aber in dem neuen Internet-Auftritt "Jewish Places" des Jüdischen Museums in Berlin eingeflossen. Grellert erwägt eine Wiederaufnahme des Angebots.