DOMRADIO.DE: Was ist "Totus Tuus"?
Dr. Benjamin Leven (Redakteur bei der "Herder Korrespondenz"): "Totus Tuus" war ein Verein von Gläubigen. Man kann sich in der katholischen Kirche zu Vereinen zusammenschließen und dann für diesen Zusammenschluss bei einem Bischof eine Anerkennung als katholische Gemeinschaft beantragen. Das hat "Totus Tuus" beim damaligen Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, gemacht.
DOMRADIO.DE: Was unterscheidet sie von anderen Gemeinschaften? Was macht sie aus?
Leven: Es handelte sich um eine marianisch und eucharistisch geprägte Gemeinschaft, die zusammen Wallfahrten organisiert hat, missionarisch tätig war, in Pfarreien gegangen ist und Jugendliche ansprechen wollte. Der Verein heißt offiziell "Totus Tuus - Neuevangelisierung". Das ist ein Stichwort, das Papst Johannes Paul II. geprägt hat: Es geht um die Wiedergewinnung der westlichen, säkularen Gesellschaften für das Christentum. Das hat sich "Totus Tuus" in einer charismatischen, sehr begeisternden Art und Weise auf die Fahnen geschrieben. Die Mitglieder sind sehr stark von den angeblichen Marienerscheinungen in Medjugorje geprägt, einem Wallfahrtsort in Bosnien-Herzegowina, der aber kirchlich nicht anerkannt ist.
DOMRADIO.DE: Das klingt eigentlich alles relativ positiv. Es ist aber auch konfliktbehaftet, denn es gibt eine Reihe von Aussteigern, die sehr kritisch der Gemeinschaft gegenüberstehen, wozu Sie recherchiert und mehrere Artikel veröffentlicht haben. Was werfen die der Gemeinschaft genau vor? Worin besteht der Konflikt, der dann im Endeffekt zur Visitation und Auflösung geführt hat?
Leven: Die Aussteiger werfen der Gemeinschaft das vor, was das Bistum Münster jetzt auch in seinen jüngsten Mitteilungen öffentlich gemacht hat, nämlich Mängel im geistlichen Umgang mit den Mitgliedern und gravierende Missstände. Was heißt das konkret? Da ist von Grenzverletzungen im Verhalten die Rede, von Druck, der auf die Mitglieder ausgeübt worden sein soll. Das klingt alles relativ abstrakt und allgemein und man fragt sich: Na ja, gibt es nicht überall ein bisschen Druck? Wem das mit dem Druck zu viel wird, der sucht sich was anderes…
Aber da muss man genauer hinschauen. Die ehemaligen Mitglieder sagen, es habe einen extremen Leistungsdruck in der Frömmigkeit gegeben: das Gefühl, dass es nie gereicht hat, dass man mehr beten muss, um mehr Menschen bekehren zu können. Dass man sich sozusagen geistlich auch quälen muss, fasten muss, beten muss, Buße tun muss, was aber, sagen sie, nie genügt habe. Man sei also immer noch zu neuen, größeren Anstrengungen in der Frömmigkeit aufgefordert worden.
Jetzt kann man aber immer noch sagen: Gut, wem das zu viel ist, der kann ja die Gemeinschaft verlassen. Aber die Aussteiger beschreiben psychologische Mechanismen, die es schwer gemacht hätten, sich davon zu trennen.
Ich finde einen Text ganz bezeichnend, der in einem Schreiben zu finden ist, das vor vielen Jahren mal an die Mitglieder von "Totus Tuus" ging. Da wird an die Mitglieder die Frage von Jesus an die Jünger aus dem Johannesevangelium gestellt: Wollt auch ihr weggehen? Damit sagt "Totus Tuus": Ihr seid freiwillig da, ihr könnt natürlich gehen, aber dann verlasst ihr Jesus. Das ist ein psychologisches Dilemma.
Wenn ich das Gefühl habe, eigentlich bin ich von diesen wahnsinnigen geistlichen Ansprüchen überfordert, die an mich gestellt werden, ich kann das nicht mehr, ich möchte aussteigen, ich aber gleichzeitig meine, wenn ich das tue, dann verrate ich Christus, dann werde ich meiner Berufung untreu, dann ist das eine Art spirituelle Zwickmühle, aus der man schwer rauskommt.
DOMRADIO.DE: Nun gab es bei der Gemeinschaft einen jahrelangen Visitationsprozess durch das Bistum Münster. Ehemalige Mitglieder von "Totus Tuus" werfen den Visitatoren allerdings Befangenheit vor. Was ist denn der Hintergrund dieser Visitation, die ja nun im Endeffekt zur Auflösung der Gemeinschaft geführt hat?
Leven: Die Visitation im Bistum Münster - das muss man erst mal positiv hervorheben - ist aufgrund der Beschwerden von ehemaligen Mitgliedern in Gang gekommen. Die Gemeinschaft hatte damals einen sogenannten geistlichen Beirat. Das war ein hoher Kleriker des Bistums Münster und an den sind die ersten Beschwerden von Mitgliedern und ehemaligen Mitgliedern herangetragen worden. Das Bistum hat dann damit reagiert, dass es diese Visitation begonnen hat.
Das ist auch ganz folgerichtig, denn kirchlich anerkannte Vereine unterliegen einer Aufsichtspflicht der Bischöfe. Das heißt, das Bistum, das den Verein anerkennt, ist dann auch im Falle von Beschwerden aufgefordert, dem nachzugehen. Es ist Teil der Wahrnehmung der Aufsichtspflicht. Das hat das Bistum Münster gemacht und zwei Personen benannt, die die Gemeinschaft untersuchen sollten.
Die ehemaligen Mitglieder hatten dann das Gefühl, dass die Visitatoren gewissermaßen zu viel Verständnis für die Gemeinschaft aufbracht haben. Einer der beiden stand unabhängig von der Visitation auch schon in Kontakt zu der Gemeinschaft. Dann hat sich das Ganze sehr lange hingezogen, was zu weiterer Unzufriedenheit führte. Das hatte möglicherweise damit zu tun, dass die Absicht der Visitatoren und des Bistums von Anfang an war, kein Strafgericht zu veranstalten, sondern auf eine Verbesserung des Zustands hinzuarbeiten.
DOMRADIO.DE: Wie lief das ab?
Leven: Man hat die ganze Gemeinschaft in einen Gesprächsprozess geholt. Man hat eine neue Übergangsleitung installiert und hat in einem doch sehr aufwendigen Verfahren durch Reflexion, Gespräche und Austausch versucht, diese Missstände, die man gesehen hat, abzustellen, sodass es dann für die Gemeinschaft eine Zukunft geben sollte. Da kann man schon verstehen, dass es ein langer Prozess ist.
Es gab also die Arbeit der Visitatoren. Die ist irgendwann abgeschlossen gewesen. Daraufhin hat der Bischof dann eine Gruppe von Experten eingesetzt, die den Aufarbeitungsprozess weiterführen sollten. Das ist alles sehr breit angelegt gewesen. Am Ende muss man aber sagen, dass dieser Versuch der Neuaufstellung gescheitert ist. Der Bischof hat dann die Entscheidung getroffen, dass die Gemeinschaft jetzt auflöst wird.
DOMRADIO.DE: Zur Begründung der Auflösung führt Bischof Genn in seinem Dekret aus, dass "die Verantwortlichen in der Vereinigung Totus Tuus nicht willens, bereit und in der Lage sind, die im Bericht erkannten schwerwiegenden Mängel im geistlichen Umgang mit Mitgliedern dieser Gemeinschaft zum einen einzusehen und zum anderen die gravierenden Missstände auch abzustellen. (…) Durch einen personenfixierten und unreflektierten Leitungsstil wurde ein Klima begünstigt, das Spiritualität quantifiziert, Kritik zum Ausweis mangelnder geistlicher Reife erklärt und ein geschlossenes Elitedenken befördert hat.“ - Diese Deutlichkeit ist für die katholische Kirche doch eher ungewöhnlich. Was sagt uns das?
Leven: Ich würde sagen, diese deutlichen Worte des Bischofs sind Ausdruck einer großen Frustration darüber, dass seiner Wahrnehmung nach offensichtlich von Seiten der Gemeinschaft zu wenig Einsicht, zu wenig Bereitschaft zur Veränderung festzustellen war. Und das, nachdem der Bischof sich in einem derart aufwendigen Prozess mit dieser ja doch am Ende recht kleinen Gemeinschaft beschäftigt hat.
Der Bischof sagt: Am Ende fehlte das Problembewusstsein und die Bereitschaft, sich auf die Bedingungen einzulassen, unter denen sich das Bistum ein Weiterbestehen dieses Vereins hätte vorstellen können.
DOMRADIO.DE: Nun kann man rechtlich einen Verein verbieten, aber nicht private Zusammenkünfte von Menschen. Das Bistum Münster verbietet seinen Angestellten den Umgang mit "Totus Tuus", aber die Gruppierung wird ja nicht von heute auf morgen verschwinden, weil sie kein rechtlich anerkannter Verein mehr ist. Wie wird es nun also weiter gehen?
Leven: Man muss zweierlei sehen: Diese Gemeinschaft hat eine kirchenrechtliche Realität und eine zivilrechtliche Realität. Zivilrechtlich gesehen existiert ein eingetragener Verein, der mehr oder weniger den Charakter eines Fördervereins hat. Diesen weltlichen Rechtsträger kann der Bischof natürlich nicht verbieten und nicht auflösen.
Er kann aber sehr wohl den kirchenrechtlichen Verein von Gläubigen auflösen. Sein Vorgänger hat ein Statut anerkannt und der Bischof hat diesen kirchlichen Verein jetzt aufgelöst. Das heißt, als kirchenrechtliche Realität existiert "Totus Tuus" jetzt erst mal nicht mehr. Das hat allerdings noch keinen endgültigen Charakter, denn "Totus Tuus" kann kirchenrechtlich gegen diese Entscheidung vorgehen. Sie können zunächst den Bischof selbst bitten, sein Auflösungsdekret zurückzunehmen. Wenn er das nicht tut, dann haben sie die Möglichkeit, in Rom beim Laiendikasterium Rekurs einzulegen, also eine Beschwerde, und Rom zu bitten, dieses Auflösungsdekret des Bischofs aufzuheben.
Es stimmt aber natürlich: Man kann niemandem gemeinsame geistliche Aktivitäten verbieten. Man kann niemandem verbieten, sich zu treffen und miteinander zu beten. Aber diese Aktivitäten haben eben nicht mehr die kirchliche Anerkennung. Das ist keine offiziell anerkannte katholische Gemeinschaft mehr, wenn sie denn einmal rechtskräftig aufgelöst ist.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch