DOMRADIO.DE: Der Ethikrat hat sich bereits für eine berufsbezogene Impfpflicht ausgesprochen. Gibt es auch eine gemeinsame Position zur allgemeinen Impfpflicht?
Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl (Augsburger Moraltheologin und Mitglied des Deutschen Ethikrats): Ganz grundsätzlich sind wir zur Verschwiegenheit über die internen Debatten im Ethikrat angehalten. Aber so viel sei verraten: Wir diskutieren das Thema der allgemeinen Impfpflicht sehr kontrovers.
Bis jetzt hat der Deutsche Ethikrat in seinen Stellungnahmen die allgemeine Impfpflicht aus diversen Gründen immer ausgeschlossen. Also wissenschaftliche Erkenntnisse, gesellschaftliche Lage, rechtliche Vorgaben, Fragen der Umsetzbarkeit, also aus wirklich diversen Gründen.
Und ja, auch dazu kann ich für mich sprechen, in der Hoffnung, dass sich doch die allermeisten aus vernünftigen Gründen zur Impfung entscheiden. Nun hat sich die Lage dramatisch verändert. So viel kann ich verraten. Sie werden vom Ethikrat auch in dieser Frage hören.
DOMRADIO.DE: Ihr Ethikrat-Kollege Andreas Lob-Hüdepohl kann sich tatsächlich eine solche allgemeine Pflicht als Ultima Ratio vorstellen. Er hat sich schon geäußert. Können Sie sich das auch vorstellen?
Schlögl-Flierl: Ultima Ratio heißt ja aller-, aller-, allerletzter Notnagel. Über Wochen hätte ich jetzt die allgemeine Impfpflicht noch abgelehnt. Aber ich muss sagen, ich wäge es gerade ab. Einer der Gründe, der mich ins Nachdenken bringt, ist sicherlich, dass die Ungeimpften gerade aufgrund der Delta-Variante im Coronavirus mit ihrem Verhalten die Geimpften bzw. Ungeimpften, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, auch gefährden.
Die Gefährdung ist nicht immer direkt, sondern oft auch indirekt. Zwei Beispiele: Wenn aufgrund eines anderen Notfallhintergrundes jemand geimpft ist, ins Krankenhaus kommt und nicht genügend Intensivbetten zur Verfügung stehen oder dass Operationen, die an sich notwendig und angezeigt wären, nun verschoben werden müssen. Diese indirekten Auswirkungen sind zu sehen.
Und als Theologin spreche ich mich immer dafür aus, dass die Impfung zum Schutz der Vulnerablen dienen soll und man sich aus dem Grund impfen lassen sollte. Jetzt sieht man deutlich neue Vulnerabilitäten. Also wir müssen etwas tun. Ich wäge noch ab.
DOMRADIO.DE: Was genau für Rechte stehen denn da gegeneinander? Was muss denn der Gesetzgeber in solchen Fällen abwägen?
Schlögl-Flierl: Ich bin ja von Haus aus Moraltheologin und keine Juristin. Der Verfassungsrechtler würde vielleicht jetzt anders antworten, aber ich sehe zum einen das Recht auf Freiheit des Einzelnen, eine freie Entscheidung treffen zu dürfen und zu können, wobei natürlich zu klären ist, was Freiheit bedeutet.
Als Theologin bin ich dann gleich dabei zu fragen, ob es uneingeschränkte Freiheit ist oder ob vielleicht auch Freiheit gemeint ist, die keinem anderen schaden darf. Ein zweites ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es wird sehr stark von den Ungeimpften beansprucht. Sie wollen sich unter anderem deswegen nicht impfen lassen.
Aber man könnte auch dieses Recht auf körperliche Unversehrtheit für diejenigen anwenden, die aus anderen Gründen einen Krankenhausplatz benötigen, der jetzt wahrscheinlich nicht mehr zur Verfügung steht. Wir haben wirklich verschiedene Rechte.
Man kann auch den Schutzauftrag des Staates für Leib und Leben, für die Gesundheit seiner Bürger anführen. Ist er damit eigentlich verpflichtet, eine allgemeine Impfpflicht aufgrund der dramatischen Lage einzuführen? Aber nur von Rechten zu reden ist natürlich immer schwierig.
Ich sehe auch immer die Pflichten auf der anderen Seite. Und bei Pflichten geht es gar nicht so sehr um Impfpflicht, sondern die Pflicht, andere Menschen in ihren Grundbedürfnissen ernst zu nehmen, die Pflicht, keinen anderen Menschen einem Risiko auszusetzen, die Pflicht zur Solidarität.
Ich denke, eine Rede von Rechten wie Pflichten wäre der Situation oft angemessener.
DOMRADIO.DE: Wenn wir jetzt mal einen Schritt weiterdenken und annehmen, es käme eine solche Impfpflicht, dann wäre die ja auch schwer durchzusetzen. Man kann sich ja kaum vorstellen, dass da Impfunwillige mit Blaulicht abgeholt werden oder gegen ihren Willen eine Spritze verabreicht bekommen. In welche Richtung denken Sie denn aus theologisch-moralischer Sicht über solche Szenarien nach?
Schlögl-Flierl: Die Frage der Umsetzbarkei war ja immer ein Argument gegen eine allgemeine Impfpflicht. Das mit dem mit Blaulicht Abholen ist wirklich ein bisschen plakativ. Wir haben es bei der berufsbezogenen Masern-Impfpflicht, die schon so gilt. Da ist es auch anders gemacht worden. Da gibt es Strafen.
Aber vielleicht zeigt es noch einmal, dass uns jetzt sofort keine einfache, verhältnismäßige Regelung bei der allgemeinen Impfpflicht einfällt. Das ist ja genau die Crucis, dass das genau die Schwierigkeit bei der allgemeinen Impfpflicht ist. Ich könnte mir schon vorstellen, dass man den Impfstatus bis zu einem gewissen Zeitpunkt kontrolliert, dass jeder das dann nachweisen muss.
Indirekt wird es ja momentan schon gemacht, indem ja Kontrollen am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Öffentlichkeit immer weiter durchgezogen werden und hier die Regelungen glattgezogen werden. Also ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit Blaulicht abgeholt wird, aber es muss verhältnismäßige Regelungen geben.
Und ja, es braucht noch Ideen; sicherlich auch in diesem Feld.
DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Vermutung, wie die Diskussion ausgehen könnte, ob für oder gegen Impfpflicht?
Schlögl-Flierl: Das ist jetzt ein Blick in die Glaskugel. Ich sehe, dass die Debattenlage gerade kippt. So würde ich sagen. Es war vorher ein sehr klares Veto gegen die allgemeine Impfpflicht und jetzt wird die Diskussion aufgemacht. Eine ganz klare Prognose kann ich nicht treffen.
Aber diese Debattenlage, die sich verändert, die kann ich schon auch deutlich feststellen. Wir werden zu diesen Fragen immer mehr angefragt. Die Mehrheit kann es sich schon vorstellen, aber ich würde in genauen Vorhersagen momentan noch abwarten.
Das Intrerview führte Heike Sicconi.