DOMRADIO.DE: Was bedeutet denn der nahende Winter ganz konkret für die Betroffenen?
Claudia Müller-Brück (Fluthilfe-Seelsorgerin des Diakonischen Werks Bonn und Region): Es ist ein bisschen unterschiedlich, wie weit die einzelnen Menschen schon wieder in ihre Häuser gekommen sind. In vielen Häusern gibt es im Moment provisorische Heizungen, die zumindest einen Teil des Hauses heizen können. Es gibt aber leider immer noch Häuser, die ohne Heizung sind. Und auch da, wo Heizungen laufen, ist ganz oft der Boden ausgeschlagen, die Wände im Keller im Erdgeschoss abgeschlagen. Also all das, was man sich in dieser kühlen Jahreszeit eigentlich wünscht - einen heimeligen Ort zu haben, wo man sich zurückziehen kann, wo man sich zu Hause und sicher fühlt - das haben ganz viele Menschen hier im Moment noch nicht.
DOMRADIO.DE: Und was macht den Menschen sonst zu schaffen?
Müller-Brück: Das eine ist, dass sie gerade viel zu tun haben mit Bürokratie. Die Anträge auf Fluthilfe können gestellt werden. Das ist relativ kompliziert, das muss man online machen. Es gibt viele Menschen, die da beraten und unterstützen, von den Kommunen und vom Kreis. Und trotzdem muss man ja alle Unterlagen zusammen haben, Fotos anfertigen und so weiter. Das kostet viel Zeit und Mühe und natürlich auch nochmal Kraft.
Zum Teil sind das auch ganz existenzielle Sorgen. Was uns im Moment öfter betrifft, ist, dass Menschen, um die Anträge stellen zu können, ein Baugutachten haben müssen. Ein Gutachter muss den Schaden aufgenommen haben und eine Summe geschätzt haben. Das muss man aber erst mal bezahlen. Später wird das dann erstattet, von den Geldern, die über das Land und den Bund kommen. Aber die Leute müssen erstmal in Vorleistung gehen. Mit diesem Thema beschäftigen wir uns bei uns in der Diakonie gerade sehr: Wie können wir die Leute unterstützen, damit sie diese finanzielle Lücke ein bisschen überbrücken können?
DOMRADIO.DE: Das sind natürlich ganz, ganz viele praktische Themen, bei denen Sie auch unterstützen. Sie sind Fluthilfe-Seelsorgerin. Wie sieht es denn aus mit der Seelsorge? Kommen da Menschen und fragen konkret nach oder steht das im Moment im Hintergrund?
Müller-Brück: Ganz viel Seelsorge geschieht - das sagte ein Kollege letztens - am Gartenzaun. Ich bin viel unterwegs bei uns in den Orten - oft mit dem Fahrrad, meine Kolleginnen viel zu Fuß. Das heißt, man trifft Menschen, die würden mich nicht anrufen und sagen: Ich brauche jetzt mal ein Gespräch mit Ihnen. Aber wenn ich die frage: Wie geht es Ihnen? Wie wohnen Sie gerade? Was machen die Kinder? Dann sind wir eigentlich schnell mitten im Gespräch. Und dann erzählen Menschen auch immer noch, was sie im Sommer sehr belastet hat. Diese schreckliche Erfahrung der Flutnacht und der Tage danach und auch, wie es jetzt so ist.
Ich denke an eine Familie, die ich vor zwei Wochen auf dem Weg zum Martinszug getroffen habe. Die wohnt im Moment mit vier Personen auf eineinhalb Zimmern. Die Kinder sind relativ jung und lebendig, die brauchen Platz. Die Eltern bräuchten eigentlich Platz, um sich zurückzuziehen, um irgendwie zu verarbeiten, was gewesen ist. Und dann erzählen die, wie es ihnen gerade so geht. Da ist ganz viel Druck. Und der wird natürlich mit Blick auf Weihnachten eher größer. Wenn man sich eigentlich wünscht, einen ruhigen Ort zu haben und ein Stück Sicherheit, zu wissen: Wo geht's denn hin?
Ich als Seelsorgerin höre erstmal ganz viel zu. Das ist, glaube ich, das Wichtigste, dass die Menschen merken, sie können mir alles erzählen und ich halte es auch alles aus. Also vielleicht auch Dinge, die sie ihren Angehörigen oder Freunden gar nicht so erzählen würden, weil es sehr belastend ist. Das ist etwas, wo Seelsorge einfach sehr hilfreich sein kann. Einfach zuhören, alles aushalten, was da kommt. Es entlastet manche schon, dass sie aussprechen können, wie groß der Druck oder auch die Traurigkeit ist. Und dann gucken wir in der Regel schon: Was können wir denn jetzt auch gemeinsam tun? Wie kann ich die Menschen ermutigen und unterstützen, auch noch andere Hilfe anzunehmen?
DOMRADIO.DE: Wie schwer ist es denn für einige der Flutopfer, diese Hilfe überhaupt anzunehmen? Das ist ja auch für viele Leute nicht selbstverständlich.
Müller-Brück: Ich spreche immer lieber von Flut-Betroffenen als von Flut-Opfern, weil das Wort Opfer auch über längere Zeit Menschen in die Position bringt, dass sie selber nicht handlungsfähig sind. In dem Moment, wo ich Opfer bin, bin ich all dem ausgeliefert, was um mich herum ist. Im Moment ist es eigentlich ganz wichtig, dass die Menschen aus dieser Position ein Stück herauskommen, dass sie selbstbestimmt die Hilfe annehmen und selber auswählen können: Welche Form von Hilfe brauche ich jetzt?
Klar, das fällt vielen immer noch schwer. Wir versuchen sehr achtsam Menschen Angebote zu machen. Aber es ist ganz klar: Sie sind die handelnden Personen. In dieser Flutnacht waren wir alle dem ausgeliefert, was um uns herum passiert ist. Und es ist ganz wichtig, wieder ins eigene Handeln und ins eigene Tun zu kommen und Hilfe auch nicht so zu verstehen: Ich bin hilflos. Alle müssen alles für mich tun. Sondern: Ich weiß, was ich jetzt brauche. Und wenn ich Unterstützung brauche, um das rauszufinden, dann nehme ich mir die. Aber ich bin wieder Herr oder Herrin meines Lebens und meiner Umgebung.
DOMRADIO.DE: Wie können wir von außen helfen, damit das mit dem eigenen Handeln noch besser klappt?
Müller-Brück: Wichtig ist, die Menschen sehr, sehr ernst zu nehmen in dem, was sie jetzt brauchen. Ich merke manchmal, dass gerade von außen Leute ganz viele Wünsche haben. Wir wollen helfen, wir wollen was tun. Wir bringen Euch Sachen. Aber manchmal werden die Leute gar nicht gefragt: Was braucht Ihr eigentlich? Dann wird eine große Dankbarkeit erwartet. Es ist natürlich großartig, was Leute so auf die Beine gestellt haben, um zu helfen. Aber erstmal ist es gut, wenn man Menschen kennt, die einfach zu fragen: Gibt es etwas, was ich für Dich tun kann, was Dir jetzt in dieser Situation helfen kann? Ich glaube, dass den Leuten dann auch was einfällt.
Hier im Dorf hat eine meiner Nachbarinnen jetzt direkt nach der Flut zwei Wochen lang für eine Freundin gekocht. Sie hat sie vorher gefragt: Würde dir das helfen? Und dann hat sie das organisiert. Es kann sein, dass so was immer noch wichtig ist. Wir und verschiedene andere Organisationen bieten in vielen Orten immer noch Mittagessen an, um zu entlasten. Aber es kann ja auch sein, dass man sich im Freundeskreis abspricht. Jeder bringt einmal in der Woche einen Topf Essen und man isst zusammen. Aber es ist wichtig, immer zu gucken: Was möchten die betroffenen Personen? Was hilft denen wirklich?
Das Interview führte Heike Sicconi.