DOMRADIO.DE: Frau Will, nach dem Master-Examen in Englischer Literatur mit dem Schwerpunkt Fantasy, das Sie in Glasgow abgelegt haben, studieren Sie nun weiter in Köln und widmen sich nebenbei Ihrer Leidenschaft, dem kreativen Schreiben, das auch in Schottland schon immer wesentlicher Bestandteil Ihres Studiums war. So haben Sie bei Ihrer Masterarbeit, den Wunsch, selbst Autorin zu sein und sich mit phantastischen Geschichten zu beschäftigen, miteinander kombiniert. Spuk, Geister, Magie, geheimnisvolle Mächte – das fasziniert nicht nur Sie und auch nicht nur im November, der mit Halloween eingeläutet wird. Wie kommt es zu einer solchen Passion?
Cornelia Will (Lehramtsstudentin für Englisch, Deutsch und Italienisch): Fantasy eröffnet einem den Zugang zu einer anderen Welt. Das hat mich schon als Kind fasziniert, als ich zum ersten Mal Harry Potter gelesen und die Nachfolgebücher dann geradezu verschlungen habe, weil darin immer wieder ein großes Staunen über unsere Welt zum Ausdruck kommt – wenn auch mit viel Phantasie. Hier geht es um das Entdecken ganz anderer Dimensionen, um Geheimnisse und Wunder; etwas, das ich in unserer realen Welt so nicht gefunden habe. Allen Vorurteilen zum Trotz ist Fantasy aber nicht nur etwas für Träumer, wie oft abwertend über diese Literaturgattung geurteilt wird. Im Gegenteil: Hier sind seitens der Leser sehr viel Empathie und Vorstellungskraft gefordert, wenn man mit den Romanfiguren mitfühlt und mitleidet. Gleichzeitig darf man sich verzaubern lassen und in eine andere Welt eintauchen, die nach anderen Spielregeln funktioniert als unsere. Das macht den Reiz aus.
DOMRADIO.DE: Oft ist das ja eine sehr komplexe Welt mit vielen märchenhaften Zauberwesen, auf die man sich da einlässt…
Will: Und man lernt ganz viel. Denn ganz nebenbei bekommt man – gerade auch über die Lektüre im Original – einen Zugang zu Sprache und oft auch zu einer anderen Kultur, was etwas Magisches an sich haben kann. Über die lateinischen Zauberformeln konnte ich mir plötzlich die Lateinvokabeln viel besser merken. Und auch über politische Systeme, die klassische Mythologie oder die Astronomie erfährt man viel. Mir jedenfalls haben diese Geschichten geholfen, für die Schönheit unserer Welt offener zu sein, aufmerksam durchs Leben zu gehen und noch viel mehr wahrzunehmen, als sich auf den ersten Blick zeigt. Deshalb waren diese Bücher für mich als Jugendliche sehr wichtig, weil sie meine Neugierde auf die Welt geweckt haben. Und sie können gleichzeitig Trost geben – wie andere Literaturgattungen auch.
DOMRADIO.DE: In Ihrer Masterarbeit haben Sie sich mit der Darstellung von Sternen und Licht in Fantasy-Romanen im Kontext des Themas Vergänglichkeit beschäftigt. Um was ging es Ihnen bei dieser auf Englisch verfassten Kurzgeschichte?
Will: In der Pandemie hat sich nochmals sehr verstärkt gezeigt, wie verletzlich wir alle doch sind; da ist das Thema Vergänglichkeit ganz automatisch in den Fokus gerückt. Nichts war mehr verlässlich, beständig und sicher. Als die Ländergrenzen dicht gemacht wurden, wollte auch ich aus Großbritannien so schnell wie möglich nach Hause. Denn die Nachrichten überschlugen sich ja förmlich. Die Frage nach der Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens – angesichts der Tatsache, dass viele Menschen von heut auf morgen ihr Leben verloren haben – drängte sich in schmerzlicher Weise auf. In solchen Situationen hat Fantasy für mich das Potenzial, Dinge zu thematisieren, die für uns unfassbar sind: nämlich Sterben und Tod. Mit meiner Geschichte wollte ich erforschen, wie es sich anfühlt, wenn man mit dem Tod eines geliebten Menschen konfrontiert wird, wie man aus der Erinnerung an ihn Kraft schöpfen kann und wie man selbst mit dem Trauma des Verlustes weiterleben und in diesem Weiterleben sogar einen Sinn finden kann – ohne dass es zu einer nostalgischen Weltflucht kommt, sondern man Vergangenes mit Gegenwärtigem verbindet.
Und konkret zu der Lichtthematik: Die Himmelslichter sind in vielen Kulturen und Religionen ein Symbol für das Leben, aber auch für das Leben nach dem Tod. So bestand zum Beispiel über Jahrhunderte vielerorts die Vorstellung, dass die Sterne von den Seelen der Verstorbenen bewohnt werden. Diese Bilder lassen sich in fantastischen Geschichten wiederfinden. Ich habe mich in meiner Arbeit damit beschäftigt, wie Fantasy-Geschichten eine solche Symbolik aufgreifen, den Umstand der Vergänglichkeit erforschen und nach möglichen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens suchen. Sie können durch ihre fantastischen Metaphern Hoffnung und Trost spenden oder einfach nur Beistand in Zeiten von Trauer leisten.
DOMRADIO.DE: Diese eingehende Beschäftigung mit dem Tod – das ist für einen jungen Menschen doch eher ungewöhnlich…
Will: Ich hatte das Glück, dass aus meinem unmittelbaren Umfeld niemand an Corona verstorben ist. Trotzdem habe ich mir Sorgen um meine Familie gemacht. Und natürlich kenne ich Verlusterfahrungen wie viele andere auch, weil das ja ein universales Erlebnis ist. Und dann ist es wichtig, mit seinem Leid nicht alleine zu bleiben. Lesen verbindet – mit dem Protagonisten oder auch der großen Lesergemeinschaft, gerade in Ausnahmezeiten wie dem Lockdown. Die Gesellschaft von Büchern kann einem gegen die Einsamkeit helfen. Ja, der Tod hat mich in den letzten anderthalb Jahren sehr beschäftigt. Aber früher oder später ist das ja für jeden einmal dran: sich mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Da meine Mutter in der Trauerseelsorge arbeitet, haben wir ohnehin zuhause eine große Austauschkultur zu diesem Thema. Es ist ja auch wichtig, sich damit zu befassen.
Durch die Geschichte, die ich für meinen Master geschrieben habe, will ich ebenfalls dazu anregen. Sie kann Hoffnung machen, dass man einen Sinn im Leben findet, weil oder obwohl es eben endlich ist. Ich will den Tod oder die Angst vor dem Tod keineswegs bagatellisieren, aber er muss nicht das letzte Wort haben. Das ist doch ein tröstlicher Gedanke, aus dem sich Kraft ziehen lässt. Meine Geschichte bietet da auch keine konkrete Lösung an, aber sie kann vielleicht trösten, Wunden heilen…
DOMRADIO.DE: Als modernes Subgenre der Phantastik stellt die Fantasy übernatürliche Elemente in den Vordergrund. Oft bedient sie sich der Motive alter Mythen, Mysterien, Volksmärchen oder Sagen. Ist die Beschäftigung mit Fantasy ein möglicher Weg, die Welt und das, was sie im Innersten zusammenhält, zu erklären?
Will: Wie wir die Welt wahrnehmen und erklären, hängt viel von unserer eigenen Phantasie ab. Und diese Phantasie hat wiederum viel mit Empathie zu tun. So sind viele von uns den Menschen in den Flutgebieten nicht persönlich begegnet, aber durch unsere Vorstellungskraft können wir uns in sie hineinfühlen und Anteil nehmen an ihrem Schicksal. Für mich fordert das Fantasy-Genre von den Lesern besonders die Fähigkeit, eigene Bilder zu entwickeln. Es bemüht sehr stark unsere Vorstellungskraft, um neue Perspektiven bei unserem Blick auf die Welt zu gewinnen, wichtige Fragen zu stellen und Empathie aufzubauen. Und Fantasy bleibt nicht abstrakt, sondern setzt sich auch konkret mit den Krisenerfahrungen unserer Zeit auseinander.
Die drohenden Folgen des Klimawandels werden zum Beispiel bei Jeff Vandermeer in der "Southern Reach"-Trilogie oder von Kristen Simmons in "Pacifica" fantastisch dramatisiert: Was passiert, wenn die Natur unwiderruflich zerstört ist und der Kontrolle der Menschen entrinnt? In welchem Verhältnis stehen Mensch und Natur? Welche Handlungsmöglichkeiten stehen uns dann zur Verfügung? Fantasy bietet die Möglichkeit, "Was wäre wenn?"-Fragen in ihrem vollen und erschreckenden Potenzial zu entfalten, uns zu warnen, aber auch hoffnungsvolle Ausblicke zu wagen.
DOMRADIO.DE: Hoffnung ist ein christliches Prinzip. Sie sind jung und katholisch sozialisiert aufgewachsen. Welchen Platz haben für Sie bei der Beschäftigung mit Fantasy Glaube und Religion, wenn es um die Auseinandersetzung mit den großen existenziellen Fragen des Lebens geht? Und an welchen Stellen zeigt sich das konkret?
Will: Fantasy kann ein Medium bieten, religiöse Themen und Fragestellungen zu veranschaulichen und greifbarer zu machen. Zwei Gründerväter der modernen westlichen Fantasy, J.R.R. Tolkien, der Autor von "Herr der Ringe", sowie C.S. Lewis, der die "Chroniken von Narnia" geschrieben hat, lehnen ihre Werke an zutiefst christlichem Gedankengut an. Die "Chroniken" zum Beispiel lassen sich als christliche Allegorie der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht verstehen. Diese Geschichten, die in den 1940er und -50er Jahren geschrieben wurden, sind eindeutig christlich geprägt, auch wenn sie in einigen Punkten kritisch betrachtet und hinterfragt werden müssen. Aber genauso sollten meines Erachtens auch die Geschichten der Bibel in ihrem jeweiligen sozio-kulturellen Kontext reflektiert werden.
Ich kann mir vorstellen, dass Kinder – indem sie mit den Charakteren der Fantasy-Bücher mitfühlen und mitfiebern – auch die Geschichten der Bibel auf besonders persönliche und anschauliche Weise miterleben und reflektieren können. So können Fantasy-Geschichten das christliche Gottesbild und Glaubensinhalte auf eine kreative Art und Weise verständlich machen. In "Narnia" zum Beispiel opfert sich der Löwe Aslan, um die Bewohner Narnias zu retten. Am nächsten Tag ersteht er zu neuem Leben. Die Parallelen zur Geschichte Jesu im christlichen Glauben sind kaum zu übersehen. Aber nicht nur auf christliche Glaubensgeschichten, sondern auch auf die anderer Religionen und spiritueller Traditionen bezieht sich das Genre von Fantasy. So befassen sich zum Beispiel die Werke von Nnedi Okorafor, einer nigerianisch-amerikanischen Schriftstellerin, unter anderem mit der Kosmologie der Igbo und die der kanadischen Autorin Nalo Hopkinson, die jamaikanische Wurzeln hat, mit afro-karibischer Religion und Spiritualität. Grundsätzlich thematisiert Fantasy oft Fragen, die alle Religionen beschäftigt: Was ist "gut", was "böse", und wer bestimmt das? Was macht den Menschen zum Menschen? Und letztlich: Was ist das Leben, und was passiert nach dem Tod?
DOMRADIO.DE: "Der Herr der Ringe", "Harry Potter", "Hobbit", "Die Elfen" oder "Tintenherz" – die Liste der Bestseller solcher Romane ist lang. Sie sagten es schon: Sie lassen einen eintauchen in eine fantastische Welt. Was genau macht denn ihren Reiz aus? Machen sie aus dem Schweren etwas Leichtes?
Will: Nicht unbedingt. Hier muss man von Fall zu Fall unterscheiden. In "Herr der Ringe" zum Beispiel hat Tolkien, der Soldat im Ersten Weltkrieg war, sicher auch das Trauma des Krieges, des Bösen und der kalten Gier nach Macht verarbeitet. Er setzt sich mit fundamental religiösen Fragen auseinander, und seine Antworten tragen viel Weisheit in sich. Es handelt sich um ein gigantisches Epos, das in einer an das Mittelalter angelehnten Welt spielt und viele traditionelle Fantasy-Elemente miteinander kombiniert. Es ist sehr bildgewaltig und im Kampf zwischen Gut und Böse steht viel auf dem Spiel. Die Helden – auch wenn sie oft straucheln – verteidigen letzten Endes das Gute.
Eigentlich ist es ein wahnsinnig trauriges Buch und dennoch mit einer hoffnungsvollen Botschaft. Als schließlich die Elben sowie die meisten Helden der Geschichte von dannen ziehen, sind die Menschen auf sich allein gestellt und müssen Verantwortung für die Welt übernehmen. Ganz symptomatisch ist da der Dialog zwischen dem Hobbit Frodo und dem weisen Zauberer Gandalf. "Ich wünschte, ich hätte den Ring nie bekommen. Ich wünschte, all das wäre nie passiert", sagt Frodo in einem Resümee. Und Gandalf antwortet: "Das tun alle, die solche Zeiten erleben. Aber es liegt nicht in ihrer Macht, das zu entscheiden. Du musst nur entscheiden, was du mit der Zeit anfangen willst, die dir gegeben ist." In diesen Worten steckt viel Wahrheit – gerade auch in unserer Zeit.
DOMRADIO.DE: Ein ganz anderes Beispiel: Cornelia Funke, die bekannteste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin hat mit dem in diesem Jahr erschienenen Kinderbuch "Die Brücke hinter den Sternen" den Versuch unternommen, Kindern Tod, Verlust und Vergänglichkeit über den kleinen Engel Barnabel nahe zu bringen, und spielt dabei ebenfalls unübersehbar mit christlichen Motiven. Wie bewerten Sie als Expertin für Fantasy-Literatur diesen Beitrag zu einem auch für Kinder wirklich schwierigen Thema?
Will: Ich kann mir vorstellen, dass ich als Fünfjährige über dieses Buch einen Zugang zu diesem Thema gefunden hätte, zumal ich mir gern die Welt durch Fantasy-Geschichten erschlossen habe. Ich halte die Neuerscheinung von Cornelia Funke für ein anspruchsvolles Buch, weil es ein für Kinder in der Tat kaum fassbares Thema komplex behandelt und Hoffnung vermittelt, wenn alles aussichtslos erscheint. Kinder sind noch völlig offen und überhaupt nicht festgelegt. Mit dem Bild der Sternenbrücke, die die Sterbenden in ein Leben nach dem Tod führt, versucht die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes, ihren kleinen Leserinnen und Lesern ein Licht in der Dunkelheit zu schenken.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.