Moraltheologe kritisiert nationale Strategien in der Pandemie

"Die Idee ist naiv"

Eine Pandemie lässt sich in einer globalisierten Welt nicht mit nationalen Strategien bekämpfen, kritisiert Franz-Josef Bormann. Er fordert globale Lösungen und erklärt, ob er eine Impfpflicht für realistisch hält und wo die Aufgaben der Kirchen liegen.

Coronatest in Südafrika / © Themba Hadebe (dpa)
Coronatest in Südafrika / © Themba Hadebe ( dpa )

DOMRADIO.DE: Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstagvormittag die Bundesnotbremse der Corona-Maßnahmen für rechtens erklärt. Für die Politik kommt diese Entscheidung ja sicherlich ganz gut. Sie bekommt jetzt damit womöglich mehr Handlungsspielraum in der aktuellen vierten Welle. Gilt das denn jetzt für den Ethikrat?

Prof. Dr. Franz-Josef Bormann (Professor für Moraltheologie an der Universität Tübingen und Mitglied des Deutschen Ethikrats): Das weiß ich noch nicht. Aus ethischer Perspektive finde ich aber auf jeden Fall auch, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu begrüßen ist, weil es eindeutig sagt, dass auch Grundrechtseinschränkungen natürlich begründungpflichtig sind, auf der anderen Seite aber auch begründungsfähig sind. Wenngleich es natürlich auch ein deutlicher Hinweis ist, im Blick auf die Frage der Schulschließungen, dass gerade im Bildungsbereich, wo ja besondere Belastungen bei den Betroffenen festzustellen sind, die Begründungslasten auch hoch sind.

Das heißt, je tiefer der Eingriff in die Grundrechte ist, desto höher ist die Anforderung an die Begründung. Und ich glaube, das ist sicherlich auch eine ganz wichtige Botschaft für die Politik, weil man sehen muss, dass es hier eine ganz besondere Verletzlichkeit gibt, dass gerade Kinder und Jugendliche in einer ganz besonders sensiblen Weise in ihrer Biographie betroffen sind, auch was ihre Zukunftschancen angeht. Und da hat sicherlich jetzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Klarheit geschaffen.

DOMRADIO.DE: Olaf Scholz und auch eine Mehrheit der Ministerpräsidenten sollen sich jetzt in der Runde schon für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen haben. Vom Ethikrat gibt es dazu ja noch keine Empfehlung. Wie sehen Sie das denn: Sollte die Impfpflicht kommen?

Bormann: Also zunächst mal würde ich sagen, ist es lange überfällig, dass man vor allen Dingen in bestimmten Bereichen eine Bereichs- oder Tätigkeitsbezogene Impfpflicht durchsetzt, also auch vor Ort implementiert. Der Ethikrat hat sich dazu ja kürzlich in einer Pressemeldung auch geäußert und gefordert, dass vor allen Dingen in den Bereichen der stationären Altenhilfe nicht etwa nur die Pflegekräfte, sondern alle dort Beschäftigten auch einer Impfpflicht unterliegen. Das halte ich auch in der Sache für richtig und man könnte diesen Gedanken jetzt auch noch ausweiten. Man könnte natürlich auch an eine stufenweise oder sukzessive Einführung einer allgemeinen Impfpflicht denken, etwa indem man auch bestimmte Altersgrenzen zunächst einmal einzieht.

Aber man muss bei der ganzen Frage der allgemeinen Impfpflicht eben auch dreierlei bedenken. Erstens setzt das Ganze natürlich voraus, dass ausreichende Mengen an Impfstoff verfügbar sind. Zweitens muss natürlich auch eine solche Impfpflicht durchgesetzt werden. Das heißt, es hilft überhaupt nichts, wenn das ein zahnloser Appell wäre, sondern es muss natürlich auch kontrolliert und durchgesetzt werden. Und drittens muss bei dieser Frage der allgemeinen Impfpflicht auch das Zeitfenster betrachtet werden. Wir wissen ja alle jetzt gerade auch durch den Ansturm der immer neuen Mutanten, dass tatsächlich die Wirkung der Impfung nachlässt mit der Zeit, dass es also Auffrischungsimpfungen braucht. Und da ist natürlich auch die Frage: Wenn wir über allgemeine Impfpflicht reden, wie lange soll das gehen? Wie stellt man sich das überhaupt vor? Das heißt, hier ist auch im Blick auf die Rede von der allgemeinen Impfpflicht natürlich ein Konkretisierungsbedarf gegeben.

DOMRADIO.DE: Auch die Deutsche Bischofskonferenz hält sich beim Thema Impfpflicht bedeckt. Sollten die Kirchen da klarer Stellung beziehen und auch konkret die Impfpflicht oder andere Maßnahmen fordern?

Bormann: Zunächst mal besteht die Aufgabe der Kirchen vor allen Dingen darin, auf die globale Dimension dieser Problematik aufmerksam zu machen. Denn wir reden ja im Blick auf die ganze Organisation der Impfkampagne weltweit zunächst mal über ein Knappheitenproblem. Das vergessen wir in den Wohlstandsregionen immer. Wir gehen immer davon aus, dass die Ressourcen allen unbegrenzt zur Verfügung stehen, was eben einfach nicht der Fall ist. Und wir leben bis heute in einer Situation, in der weite Teile der Welt bisher überhaupt keinen oder nur einen sehr minimalen Zugang zu einer ersten Impfung haben. Das ist, glaube ich, ein ganz großes Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Das ist natürlich ein immer bestehendes Problem, zeigt sich aber jetzt in der Pandemie ganz besonders krass.

Und ich glaube, hier ist die Aufgabe der Kirche als einer global tätigen Organisation auch, auf diese extreme Form der ungerechten Verteilung der Impfstoffe und des Zugangs zur Impfung hinzuweisen. Das ist, glaube ich, zunächst mal wichtiger als die Details einer wie auch immer gearteten Impfpflicht zu spezifizieren. Da sehe ich nicht so sehr die Aufgabe der Bischofskonferenz. Die Bischofskonferenz sollte natürlich darauf hinweisen, dass jeder Bürger und jede Bürgerin eine Verpflichtung hat, für die eigene Gesundheit zu sorgen. Und natürlich auch die Gesundheit der Nächsten im Blick zu behalten, das heißt, jetzt vermeidbare gefährliche Formen des Handelns auch mal kritisch zu reflektieren.

Ich glaube, wer in der gegenwärtigen Situation meint, in ein vollbesetztes Fußballstadion gehen zu müssen oder in eine dicht gedrängte Diskothek, der macht etwas falsch. Und darauf kann man auch hinweisen: dass es hier eine allgemeine Pflicht zur Gesunderhaltung für sich selbst und für andere gibt. Und das kann eben auch bedeuten, dass man mal eine Zeit lang auf bestimmte Formen der sozialen Interaktion verzichtet oder die zurückfährt.

DOMRADIO.DE: Manche verzichten ja auch zum Beispiel auf Reisen, zum Beispiel jetzt nach Südafrika, wo die neue Variante Omikron entdeckt wurde. Hat Deutschland da richtig gehandelt, um das Virus einzudämmen oder ist das jetzt eher eine Panikreaktion?

Bormann: Also zunächst mal ist es verständlich, dass man versucht, ich betone, versucht, die Infektion gerade mit neuen Virusmutanten irgendwie einzudämmen. Aber das Virus ist längst natürlich nicht nur in Europa, sondern auch in Deutschland angekommen. Von daher ist natürlich die Frage, wann man überhaupt etwas detektiert und wann die tatsächliche Verbreitung erfolgt. Das sind natürlich zwei verschiedene Paar Schuhe und die Vorstellung, man könne in dieser globalen vernetzten Welt mit ständiger wachsender Mobilität ein Virus noch durch diese Art und Weise eindämmen, die Idee ist eigentlich naiv. Damit kann man bestenfalls ein ganz kleines Zeitfenster für Gegenmaßnahmen ergreifen, aber meistens ist es dafür schon viel zu spät.

Was das Südafrikabeispiel auch noch zeigt, ist natürlich die Ambivalenz. Auf der einen Seite muss man sagen: Es ist ja sehr lobenswert, dass Südafrika sofort eine entsprechende Meldung an die Öffentlichkeit gegeben hat, auch die entsprechenden medizinischen Maßnahmen zur Sequenzierung des neuen Virus in die Wege geleitet hat. In dem Sinne hat sich das südafrikanische Gesundheitssystem ja geradezu vorbildlich verhalten.

Das darf natürlich nicht darin umschlagen, dass diese Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, die da in der Kommunikation sichtbar ist, jetzt wirtschaftlich bestraft wird. Natürlich kann man über viele Pros und Cons des globalen Tourismus nachdenken. Und natürlich ist Südafrika jetzt in der Winterzeit für uns eine mögliche Urlaubsdestination. Aber auch da bedarf es natürlich einer internationalen Solidarität. Es darf nicht so weit kommen, dass Länder, die dem Gesundheitsschutz dienliche Informationspflichten befolgen, das nicht mehr tun, weil sie wissen, dass damit wirtschaftliche Einbußen verbunden sind. Also hier muss es dann in dem Sinne auch eine internationale Solidarität geben.

Ich glaube, das sind alles Facetten, die zeigen noch einmal ganz deutlich, dass diese Pandemie wirklich ein globales Phänomen ist und dass wir letztlich mit der Pandemie nur klarkommen, wenn wir auch eine globale Gegenstrategie entwickeln. Und jeder Rückfall in rein nationalistische Vorstellungen diesbezüglich wird einfach den Herausforderungen dieses Phänomens nicht gerecht.

Das Interview führte Florian Helbig.


Prof. Franz-Josef Bormann / © Harald Oppitz (KNA)
Prof. Franz-Josef Bormann / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR
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