Renate Pilz ist nicht nach Weihnachten zumute. "Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr", seufzt die 82-Jährige aus dem rheinland-pfälzischen Sinzig. Als in der Nacht auf den 15. Juli die Flut kam und das Wasser meterhoch stieg, wurde ihr Haus an der Ahr zerstört. In letzter Sekunde flüchtete sie aus dem Keller ins Obergeschoss, Feuerwehrleute retteten sie mit einem Boot. Ihre Nachbarin ertrank in der Flut. Jetzt wohnt Renate Pilz bei ihrem Sohn – und wartet noch immer auf den Gutachter für die Wiederaufbauhilfe.
"Jetzt kommen die Erinnerungen hoch"
So wie ihr geht es etlichen Menschen im Ahrtal, die die Flutkatastrophe vor fünf Monaten überlebt haben. Viele seien mit den Nerven am Ende, körperlich und seelisch entkräftet, sagt die Sinziger Pfarrerin Kerstin Laubmann. Und gerade jetzt, zur Weihnachtszeit, brächen Gefühle der Verzweiflung, der Wut und der Einsamkeit besonders stark auf.
Manche, so scheint es, haben die Hoffnung verloren, dass es für sie und ihre Familien schnell besser wird. Andere blicken nach vorne, haben die Fassaden ihrer Häuser mit Lichterketten geschmückt und Weihnachtssterne in die Fenster gehängt.
"Jetzt kommen die Erinnerungen hoch, der Gesprächsbedarf steigt", sagt Pfarrerin Laubmann. Seit kurzem lädt sie immer freitagnachmittags ein in das "Café SolidAHRität" ins Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde Remagen-Sinzig. Zu dem offenen ökumenischen Treff sind diesmal mehr als 20 vor allem ältere Menschen gekommen. Bei Kaffee und Kuchen tauschen sie sich zwei Stunden lang aus, stützen sich gegenseitig.
"Meine Hoffnung ist weg"
"Man bekommt einfach mal den Kopf frei und sieht, wie es anderen so geht", sagt Carla Hellmann. Die 75-Jährige ist frustriert darüber, dass der Wiederaufbau im Ahrtal nur langsam vorankommt. "Man kriegt keine Handwerker mehr", wirft Inge Kriechel (78) ein. Auf rund 200.000 Euro summierten sich die Sanierungskosten für ihr flutgeschädigtes Haus, erzählt sie: "Wie soll ich das bezahlen als Rentnerin? Meine Hoffnung ist weg."
Auch Herbert Groß, 63 Jahre alt, weiß noch nicht, wie es weitergeht. Beim Bau seines Hauses schloss er keine Elementarschutzversicherung ab - und muss jetzt bangen, dass er die Kosten des Wiederaufbaus selbst schultern muss. In das Gemeindecafé mit anschließendem gemeinsamen Adventssingen kommt der Rentner freitags gerne: "Ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden kann."
Die vier älteren Sinziger eint eines: Sie wollen in ihrer schönen 18.000-Einwohner-Stadt bleiben, wo die Ahr in den Rhein fließt, und sie nicht wie andere verlassen. Die Starkregenkatastrophe kostete im Ahrtal 134 Menschen das Leben; 49 Menschen starben im benachbarten Nordrhein-Westfalen.
Sehnsucht nach Normalität
Nur knapp 200 Meter vom Sinziger Gemeindezentrum entfernt steht das frisch verputzte Gebäude der Lebenshilfe. Grablichter erinnern an die zwölf geistig und körperlich behinderten Bewohnerinnen und Bewohner, die dort ertranken. Insgesamt 14 Menschen kamen in Sinzig in der Flut um, berichtet Pfarrerin Laubmann.
Die Menschen im Ahrtal stehen zusammen in der Not, und an Weihnachten noch etwas mehr. Überall in den von der Flut betroffenen Straßenzügen hört man es hämmern. Manche Häuser sind noch immer schlammverspritzt, einige stehen leer. "Dank allen Helfern" hat jemand auf seinen Kleinbus gesprüht.
Kinder spielen in den von Schlamm und Schutt freigeräumten Gärten, das Leben geht weiter. Netzwerke der gegenseitigen Hilfe seien entstanden, erzählt die ehrenamtliche Trauertherapeutin Sabine Reinhart. Nach ihrer Erfahrung sehnen sich die durch Corona zusätzlich gebeutelten Menschen vor allem wieder nach Normalität.
"Weihnachten im Herzen"
Um den Menschen das Leben ein bisschen weihnachtlich zu machen, bieten die Kirchengemeinden im Ahrtal einiges an. Pfarrerin Claudia Rössling-Marenbach aus Adenau etwa fährt mit ihrem Chor aus Ehrenamtlichen zum "Adventssingen" durch die Orte. Ihre Kollegin Elke Smidt-Kulla aus Bad Neuenahr - das durch die Flut besonders schwer betroffen ist - bietet wöchentlich eine Adventsandacht an. "Mit vielen Kerzen und viel Musik in der Kirche, so wie jedes Jahr", sagt sie. An Heiligabend ist ein Gottesdienst in einem großen Zelt im Kurpark geplant.
"Es muss weitergehen, ich habe einen Schutzengel gehabt", sagt Renate Pilz. Auch wenn die Sorgen groß seien, habe sie "Weihnachten im Herzen", ergänzt Carla Hellmann. Nur die Holzfiguren ihrer Krippe hätten die Flut überstanden. Nun hätten ihr ihre Kinder einen neuen Krippenstall für das Weihnachtsfest geschenkt.
Über Hellmanns Krippe wird Heiligabend dann vielleicht der Herrnhuter Stern leuchten, den ihr Pfarrerin Laubmann geschenkt hat. Der handgearbeitete Papierstern ist ein kleines Hoffnungszeichen, gestiftet von Menschen aus Sachsen. Das "Café SolidAHRität" bleibt geöffnet, solange es nötig ist, verspricht die Pfarrerin.
Von Alexander Lang