DOMRADIO.DE: "Liebe Brüder und Schwestern, schön, dass wir zusammenkommen konnten, um durch den Austausch von guten Wünschen unsere Geschwisterlichkeit sichtbar zum Ausdruck zu bringen". Das hat der Papst gesagt und auch, dass es eine Zeit des Nachdenkens und der Gewissenserforschung für jeden von uns sei. Was war das, Standpauke oder Lobpreisung?
Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Ich will nicht sagen "Lobpreisung", aber es war auch keine Standpauke. Wir sind ja von früheren Weihnachtsansprachen des Papstes an die Kurie eher gewohnt, dass er nicht die Devise "Friede, Freude, Eierkuchen" beherzigt, sondern ganz scharf werden kann. Das empfand ich dieses Mal nicht. Ich empfand einen sehr bedächtigen Papst, einen Papst, der natürlich schon Fehler nahelegte und der schon anmahnte, wie man die auch beseitigen kann. Aber, dass er jetzt hart wurde, dass er bestimmte Reizwörter immer wieder verwendet, das war nicht zu bemerken.
DOMRADIO.DE: Was hat er denn angemahnt?
Nersinger: Er ist von der Krippe ausgegangen. Von der Demut der Krippe ausgehend soll man auch eine Demut in unserem Dienst in der Kirche - also in erster Linie auf die Kurie gemünzt - erweisen. Man soll also einen Dienst der Demut, so wie die Könige erweisen, die sich vor dem Kind in der Krippe verneigen, niederknien und sich auf die gleiche Stufe setzen, sich dann aber im Grunde ja auch dadurch wieder erhöhen, indem sie den Dienst vollziehen.
Das hat er ihnen klar gemacht. Er hat Demut und Stolz als Pole gezeigt, die es zu beachten gilt. Und er hat das sehr schön mit biblischen Beispielen dargelegt.
Dann ist er auf den synodalen Prozess eingegangen und da gab es einiges Interessantes zu hören.
DOMRADIO.DE: Ich höre?
Nersinger: Er hat natürlich ein Modell für die Synodalität entworfen, das sehr schön ist. Er hat den Weg aufgezeichnet, wie man das macht, sehr unaufgeregt auch. Und ich denke, das kann auch in den einzelnen Ländern ein Modell sein und auch ein kleiner Wink in Richtung Deutschland gewesen sein, wie man Synodalität richtig, unaufgeregt und ohne Provokation macht. Das fand ich sehr beeindruckend. Das war etwas, was doch sehr schön zu hören war, wie er da versucht hat, einen wirklich guten, gangbaren Weg aufzuzeigen.
DOMRADIO.DE: Gab es das eigentlich schon mal, dass Päpste die Weihnachtsansprache an die eigenen Mitarbeiter im Hause für besondere Botschaften nutzten?
Nersinger: Ja, das ist früher auch geschehen. Das ist sogar vor vielen Jahrhunderten schon mal geschehen, wenn der Papst vor den Kardinälen oder der Kurie sprach. Das ist eigentlich nichts Besonderes. Aber das Besondere jetzt in Franziskus' Pontifikat ist eben, dass er klare Worte findet und Missstände sehr deutlich anspricht. Ich hätte erwartet, dass das jetzt viel schärfer wird. Wir haben ja Missstände. Denken wir an den Finanzprozess, der anscheinend im Sande zu verlaufen droht. Das ist aber nicht geschehen. Da haben wir einen eher ruhigen Papst erlebt.
DOMRADIO.DE: Heißt das denn, dass vielleicht angesichts seiner "Brandrede" von 2014, wie sie oft genannt wird, wo er wirklich große Kritik geübt hat an seiner Kurie, sich seitdem vielleicht Dinge gebessert haben?
Nersinger: Ich denke, dass er vielleicht auch selber darüber nachgedacht hat. Er hat sich heute zur Kurie geäußert und hat sie nicht nur als einen Organismus bezeichnet, der ein reines Dienst- oder Arbeitsmittel für die Weltkirche ist, sondern er hat der Kurie schon eine größere Aufgabe, eine größere Verantwortung auferlegt. Das fand ich doch sehr interessant. Also, es war doch eine sehr versönliche und sehr gute Rede. Eine Weihnachtstirade kann ich beim besten Willen darin nicht erkennen, sondern das ist wirklich eine gute und ruhige Sache - auch für ihn - gewesen.
DOMRADIO.DE: War die Pandemie auch ein Thema?
Nersinger: Eigentlich nicht. Man sah natürlich die Mitglieder der Kurie alle schön brav mit dem Mundschutz da sitzen. Er hat das nicht direkt angesprochen. Aber indirekt gab es ein paar Beispiele aus der Bibel. Er hat aus dem Alten Testament einen Krieger erwähnt, der krank war und sich dann ins Heilige Land begeben hat. Indirekt kam es etwas vor, aber nicht expressis verbis.
DOMRADIO.DE: Sie beobachten den Vatikan und alles drumherum schon sehr lange. Hat Ihnen etwas gefehlt an dieser Weihnachtsansprache?
Nersinger: Ja, eine Sache hat mir gefehlt. Er hat einmal das Zweite Vatikanische Konzil erwähnt, komischerweise in der gesprochenen Version. In der Geschriebenen findet man das nicht. Er hat das Lumen Gentium, dieses große Dokument, als "Sauerstoff für die Lunge" bezeichnet. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass er auf den 25. Dezember eingeht. Denn vor 60 Jahren hat Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil einberufen.
Da hätte ich mir doch gewünscht, dass er das erwähnt und dass er darauf eingeht. Denn gerade erleben wir ja in gewissen Kreisen und in gewissen Internetportalen, dass das Zweite Vatikanische Konzil sehr heftig angegriffen wird - und das auch sehr unflätig. Da hätte ich mir doch gewünscht, dass der Papst noch einmal ein starkes, kräftiges Wort zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils gesprochen hätte.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.